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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte
Autoren: Gaetano Cappelli
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Nonnilde ihrerseits niemals auch nur die geringste Spur von Großherzigkeit, für die man sich erkenntlich zeigen müsste, an den Tag gelegt hat. Sie empfängt im Arbeitszimmer - einem kahlen Raum mit wenigen dunklen Möbeln, in die grimmige Klauen und Köpfe eingeschnitzt sind -, sitzt in einem Sessel, der wie ein Thron aussieht, und wirkt hochmütiger als eine russische Aristokratin vor der Revolution. Während die Besucher von ihren Erfolgen erzählen, von den angehäuften Ersparnissen, von dem Haus und den Grundstücken, die sie inzwischen im Heimatdorf erworben haben, hört sie mit unbewegter Miene zu, und die Finger spielen nervös an einer ihrer Halsketten
herum. Dann schneidet sie ihnen ohne jede Vorwarnung mitten in der überschwänglichsten Schilderung das Wort ab und demütigt sie mit Sätzen wie: » Cafone warst du, und Cafone bleibst du«, »Der Sohn eines Schweinehirten stinkt nach Schweinen« - wie oft habe ich sie, während ich eingerollt wie eine Katze auf ihren Knien lag, noch schlimmere Dinge sagen hören. Aber dieser hier ist nicht der übliche Schollenknecht. Er arbeitet als Gärtner auf dem Anwesen, das an eine von Onkel Richards Villen grenzt, und sieht meinen Vater oft. Deshalb behandelt die Großmutter ihn freundlich, ja, sie scheint sich geradezu für seine Angelegenheiten zu interessieren und bestürmt ihn mit Fragen, bis sie plötzlich explodiert - angesichts ihrer Körpergröße bemerkt man kaum, dass sie aufgesprungen ist. »Wie kannst du es wagen, du Bettler … Raus aus meinem Haus!«, wirft sie ihm an den Kopf, zusammen mit anderen Liebenswürdigkeiten, die ich hier lieber nicht wiederhole. In Wirklichkeit ist sie alles andere als wütend: Sie hat soeben genau das erfahren, was sie brennend zu wissen begehrt hatte, nämlich dass mein Vater eine Geliebte hat - doch die Familienehre muss trotzdem verteidigt werden. Während sich die Tür langsam hinter dem verdatterten Gesicht des Viehhüters schließt, öffnen sich die Lippen der Großmutter zu dem Lächeln eines Menschen, der sich endlich von einer großen Last befreit hat. Hätte ihr Sohn sie und die Firma aus den üblichen Gründen im Stich gelassen - Zerplatzen übersteigerter Jugendträume, ökonomische Erfolglosigkeit, Frustration oder Melancholie als Folge eines weit verbreiteten Syndroms, das sich mit der räumlichen Entfernung von den neuralgischen Zentren der Welt erklären lässt -, dann wäre die Angelegenheit ernst gewesen. Jetzt aber hatte sie die Bestätigung dafür erhalten, dass, wie sie von Anfang an geargwöhnt hatte, eine Frau dahintersteckte. Und da Nonnilde gegenüber den Vertreterinnen ihres eigenen Geschlechts immer schon die größte Gleichgültigkeit hat walten lassen - nicht einmal den unzähligen Geliebten ihres Gatten ist es gelungen, ihr mehr als ein Schulterzucken zu entlocken -, weiß sie aus Erfahrung, dass bei den Problemen, die von einer Frau hervorgerufen werden,
nur eine andere Frau - am besten eine Ehefrau und Mutter - Abhilfe schaffen kann. So bestellt sie meine Mamma zu sich und teilt ihr mit, was sie erfahren hat. Sie erwartet, dass der Kummer sich irgendwie auf die Fülligkeit der Schwiegertochter auswirkt, die, an sich schon eine blühende Person, dank der im Süden traditionell mit dem Eintritt in den Ehestand verbundenen Gewichtszunahme richtiggehend fett geworden ist. Da aber der Gram keine nennenswerten Resultate zeitigt, setzt Nonnilde sie einen Monat auf Wasser und Brot, dann packt sie ihr den Koffer, steckt das Foto von Onkel Evaldo dazu, das mich weinend unter dem Weihnachtsbaum zeigt, und verfrachtet sie, in ihrer ganzen wiedererlangten Pracht, in ein Flugzeug Richtung New York.
    Ich weiß nicht, ob mein Vater, als er kaum eine Woche später mit der Mamma ein Flugzeug besteigt, in sein Kaff zurückkehren oder nur seine Frau dorthin zurückbringen oder vielmehr seinen wimmernden Sprössling abholen will, um mit der ganzen Familie im Land seiner Träume zu leben. Ich kann es nicht wissen, weil das Flugzeug, eine viermotorige Constellation der letzten Generation, auf seinem ruhigen Flug in tausend Metern Höhe ausgerechnet gegen den Pico Redonta prallt, den einzigen Felsen, der aus dem ganzen Atlantik herausragt, die einzige Landmassenkapriole in einem unendlich weiten Meer. Und so ist es gekommen, dass ich Vollwaise bin und manchmal in der Nacht aufwache und weine. Im Übrigen regt es mich, wie gesagt, nicht weiter auf, zumal die Situation ja durchaus ihre positiven Seiten hat.
    Du
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