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Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1

Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1

Titel: Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
Autoren: Der Silberfalke
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seine festen Stiefel und der dunkelgrüne Umhang sehr gefehlt.
    Am Himmel wich das Dunkel jenem Grau, das den Tagesanbruch ankündigt, und die Sterne begannen zu verblassen. Es
war, als hielte sogar der Wind die Luft an und wartete auf das
erste Atemholen, die ersten Regungen des neuen Tages. Diese
Stille war ungewöhnlich, ebenso beunruhigend wie faszinierend, und der Junge hielt im Einklang mit seiner Umgebung
ebenfalls einen Augenblick die Luft an. Dann berührte ihn ein
Hauch, der sanfte Atem der Nacht erklang seufzend, und der
Junge begann wieder zu atmen.
    Als der Himmel im Osten heller wurde, streckte er den
Arm aus und griff nach einer Kürbisflasche. Er trank das
Wasser darin und versuchte, es wirklich zu genießen, denn
das war alles, was er zu sich nehmen durfte, bis er seine Vision gehabt hatte und den Bach erreichen würde, der auf seinem
Rückweg zum Dorf den Weg kreuzte.
    Seit zwei Tagen hatte er unterhalb des Gipfels des Shatana
Higo gesessen, an jenem Ort, an dem die Jungen seines Volkes zu Männern wurden, und auf seine Vision gewartet. Er
hatte bereits die letzten beiden Tage im Dorf gefastet und nur
Kräutertee und Wasser getrunken, dann hatte er die traditionelle Kriegermahlzeit zu sich genommen – Trockenfleisch,
hartes Fladenbrot und Wasser mit bitteren Kräutern – und war
einen halben Tag den staubigen Weg zum Osthang des heiligen Bergs hinaufgestiegen, bis er die kleine Senke ein Dutzend Schritte unter dem Gipfel erreichte. Diese Lichtung war
kaum groß genug, um einem halben Dutzend Menschen Platz
zu bieten, aber als der Junge sie nach seiner Wanderung am
dritten Tag der Zeremonie erreichte, war sie ihm riesig und
leer vorgekommen. Seine Kindheit in einem großen Haus mit
vielen Verwandten hatte ihn nicht auf solche Isolation vorbereitet, und dies war das erste Mal in seinem Leben, dass er
mehr als ein paar Stunden allein verbracht hatte.
    Wie es bei den Orosini üblich war, hatte der Junge die rituelle Vorbereitung auf den Tag, an dem er zum Mann werden
würde, am dritten Tag vor dem Mittsommerfest begonnen,
das die Tiefländer Banpis nannten. Er würde das neue Jahr
und das Ende seines Kinderlebens feierlich begehen, indem er
über die Überlieferung seiner Familie und seines Clans, seines
Stammes und seines Volkes nachdachte und versuchte, damit
die Weisheit seiner Ahnen heraufzubeschwören. Es war eine
Zeit tiefer Introspektion und Meditation, in der ein Junge versuchte, seinen Platz im Universum zu begreifen, die Rolle, die
die Götter ihm zugedacht hatten. Und an diesem Tag sollte er
sich auch seinen Männernamen erwerben. Wenn alles so verlief, wie es sein sollte, würde er am Abend des Mittsommerfests wieder bei seiner Familie und seinem Clan sein.
    Als Kind hatte er Kieli geheißen, eine Kurzform von Kielianapuna, dem Wort, mit dem sein Volk das Rote Eichhörnchen bezeichnete. Diese schlauen und geschickten Waldbewohner, die man selten zu sehen bekam, obwohl sie stets in
der Nähe waren, wurden von den Orosini als Glücksbringer
betrachtet. Und man hielt Kieli im Dorf für ein Glückskind.
    Der Junge konnte sein Zittern kaum mehr beherrschen,
denn sein geringes Körperfett schützte ihn kaum vor der Kälte. Selbst jetzt, mitten im Sommer, wurde es nach Sonnenuntergang auf den Berggipfeln im Land der Orosini recht kalt.
    Kieli wartete auf seine Vision. Er sah, wie der Himmel heller wurde, ein langsamer, aber stetiger Übergang von Grau zu
Graublau und dann zu einem zarten Rosa, als die Sonne sich
dem Horizont näherte. Er sah, wie die ersten Sonnenstrahlen
sich über die Berge tasteten und dann die helle, weiß-golden
leuchtende Scheibe selbst erschien, die ihm einen weiteren
Tag der Einsamkeit ankündigte. Er wandte den Blick ab, als
die Sonne endgültig aufgegangen war, um nicht geblendet zu
werden. Das Zittern ließ langsam nach, als ihm ein wenig
wärmer wurde. Er blieb sitzen, zunächst erwartungsvoll, aber
dann überfiel ihn eine tiefe, von Erschöpfung geprägte Hoffnungslosigkeit.
    Jeder Orosini-Junge musste sich an dem Mittsommertag,
der seinem Geburtstag am nächsten lag, an einen der vielen
heiligen Orte seines Volkes begeben und sich diesem Ritual
unterziehen. Es schien, als wären schon vor Anbeginn der Zeit
Jungen zu Aussichtspunkten wie dem aufgestiegen, an dem
Kieli nun saß, und als Männer in ihre Dörfer zurückgekehrt.
    Der Junge verspürte kurz so etwas wie Neid, als er daran
dachte, dass die Mädchen seines Alters im
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