Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Faunblut

Faunblut

Titel: Faunblut
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
alten Schule!
    Jade war schon oft geflohen – vor den Leuten der Lady, die den Schwarzmarkt aufgespürt hatten, vor Dieben und Betrunkenen. Und nicht zuletzt vor den Jägern, die sie selbst für eine Diebin hielten. Doch diesmal musste sie schneller sein – und leiser. Es wäre leicht gewesen, Lilinn zu überholen, die einen Rock trug und längst nicht so schnell war wie Jade, aber heute legte es Jade nicht darauf an, an ihr vorbeizuziehen. Lilinns langes Haar, das sie in einem kunstvoll gedrehten Zopf trug, tanzte bei jedem Schritt wie eine goldene Schlange. Lautlos schlüpften sie unter einem mit Efeu bewachsenen Türstock hindurch und huschten den breiten Flur entlang, über den einst Schüler gelaufen waren. Schon vor Jahren hatten Kletterpflanzen damit begonnen, die Mauern zu überwuchern, und selbst die eisigen Winter hatten sie nicht aufhalten können. Das Gebäude hatte kein Dach mehr, und wenn man nach oben blickte, konnte man die blassen, schlierigen Wolken sehen, die über den weißen Morgenhimmel zogen.
    Jade kannte jeden Winkel der verbotenen Stadt, von der Halle, in der die Schüler an langen Tischen gesessen und gegessen hatten, bis hin zu der prächtigen, mit schwarzem Marmor gepflasterten Hauptstraße. Und auch den kleinen Marktplatz, die verwinkelten Gässchen und die Ruinen der Tuchhallen und Kontore, in denen die Händler früher Seidenstoffe und Pelze gehortet hatten. Geschwungene Steinbrücken führten über die Kanäle, die vom Stadtfluss Wila abzweigten. Schlingpflanzen hatten sich unter den Brücken verfangen und streckten ihre blassgrünen Finger nach den bemoosten Treppen aus.
    Jade und Lilinn hasteten durch einen Hinterhof und von dort aus über die hoch gewölbte, schmale Brücke, die die Flussleute den »Katzenbuckel« nannten. Sie umrundeten eine halb zerfallene Kirche und liefen auf einen prächtigen Stadtpalast zu, dessen zwei Marmorfiguren in Form von bärtigen Riesen nicht mehr das Dach, sondern nur noch den Himmel trugen.
    An der Hausecke des Palasts verharrte Jade, hastig atmend, bemüht, kein Geräusch zu machen, obwohl sie das Gefühl hatte, ihr Herzschlag müsse in den Gassen widerhallen. Echos, so sagte man, hatten ein gutes Gehör, besser als Katzen.
    Angespannt lauschte sie. Kein Scharren, kein Geräusch, aber dennoch – da war etwas, ein Blick, den sie als Gänsehaut spüren konnte. Sie zuckte zusammen, als Lilinn sie warnend mit dem Ellbogen anstieß, aber längst hatte sie es auch wahrgenommen: Hundegebell, dumpf und weit entfernt, doch schnell lauter werdend. Die Leute der Lady. Das hatte gerade noch gefehlt! Hatten sie die Echos bereits entdeckt? Oder war es die Spur der Menschen, die die Jagdhunde aufgenommen hatten?
    Lilinn und Jade wechselten einen gehetzten Blick und sahen sich um. Es war die ungünstigste Stelle für eine Flucht. Von einem kleinen Sternplatz neben dem Haus zweigten Gassen und Wege ab. Welche Richtung sie auch wählten – sobald sie sich vom Haus entfernten, würden sie möglicherweise gesehen werden. Vielleicht lauerten die Echos bereits hinter der Ecke und warteten nur darauf, dass die beiden Menschen ihnen in die Fänge liefen?
    Jade schielte nach oben. Ein Marmorriese starrte grimmig auf sie herunter. Im Schatten der gewaltigen Steinmuskeln hatte eine Taube ihr Nest in seiner Armbeuge gebaut. Ein sicherer Platz in der Stadt voller streunender Katzen und Köter. Und ganz bestimmt ein guter Aussichtspunkt.
    Lilinn runzelte fragend die Stirn, als Jade ihren Rucksack auf den Boden legte und sich ihrer Schuhe entledigte. Doch als sie erkannte, was Jade vorhatte, schnappte sie entsetzt nach Luft. Sie sprang vor und wollte sie am Ärmel packen, doch Jade war schneller. Längst hatte sie mit den Fingern einen Mauerspalt ertastet. Rasch hangelte sie sich an der Wand des Stadtpalastes nach oben. Hier zu klettern, war nicht besonders schwierig, in der Mauer fehlten Steine, und selbst das Bein des Riesen war voller Scharten, die ihren Zehen als Kletterschwellen dienen konnten. Jetzt war sie froh, dass sie an diesem Tag die weiten Leinenhosen angezogen hatte, die ihr genug Bewegungsspielraum ließen. Als sie einen kurzen Blick über die Schulter zurückwarf, sah sie Lilinn. Sie war eine auffallend ruhige, kühle Schönheit, jetzt aber glühten ihre Wangen rot und die Augen funkelten vor mühsam verhaltener Wut. Runter! , befahl ihre herrische Geste, aber Jade schüttelte den Kopf und kletterte weiter. Hand über Hand zog sie sich hoch, wobei sie darauf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher