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Faunblut

Faunblut

Titel: Faunblut
Autoren: Nina Blazon
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achtete, im Sichtschutz des Marmorriesen zu bleiben. Rauer Stein kratzte über ihre Handflächen. Ihre Muskeln pochten bereits nach wenigen Metern, und an ihren bloßen Zehen spürte sie, wie scharfkantig der Stein an manchen Stellen war. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zog sie sich über den marmornen Rand einer Gewandfalte des Riesen, wobei sie sich den Fußknöchel aufschürfte. In letzter Sekunde verkniff sie sich einen gezischten Fluch und ertrug den brennenden Schmerz, ohne einen Laut von sich zu geben.
    In der Falte des Riesengewandes konnte sie sitzen wie in einer steinernen Hängematte. Für den Bruchteil eines Augenblicks genoss sie den Triumph, das Pochen und Ziehen in ihren Armen und das berauschende Gefühl der Höhe.
    Die Taube beobachtete sie mit schräg gelegtem Kopf, bereit, bei der kleinsten Bewegung davonzuflattern.
    Jade beugte sich vorsichtig nach vorne und spähte zu den Straßen hinunter. Von hier oben wirkte die tote Stadt wie ein Labyrinth mit blinden Gängen, Toren und Nischen. Wie blasse Adern zogen sich die Kanäle durch die Ruinen. In der Ferne leuchtete das breite kristallgrüne Band der Wila. Jenseits des Flusses stieg die neue Stadt aus den Morgennebeln: Der Regierungssitz der Lady erhob sich wie ein glatter hellgrauer Monolith am Nordufer. Früher war das Gebäude ein Palast gewesen – ein verwinkeltes, prächtiges Gebäude mit Bogenfenstern –, und obwohl es mit den neu erbauten Außenmauern eher an eine Festung gemahnte, nannten die Stadtbewohner es immer noch den »Winterpalast«. Unweit davon standen die Glaskirche und die Häuser der reichen Lords. Viele davon hatten helle, neue Fassaden, doch es gab auch eine lange Reihe alter Gebäude mit neuen Herren direkt am Fluss. Und ein ganzes Stück stromaufwärts, an der Grenze von Gestern und Heute, lag Jades Heim.
    Ein Windstoß fuhr Jade in den Kragen und wehte ihr das dichte Lockengestrüpp ihrer Haare vor die Augen. Schwarzes Feuer – so nannte ihr Vater Jakub ihre Mähne gerne. Mit Silberfunken. Ungeduldig drehte sie die Locken zu einem Strähnenknäuel zusammen, das sie sich in den Kragen stopfte. Die Echos waren nirgendwo zu sehen. Das Hundegebell war nun ganz nah, es kam von Norden. Natürlich – die Leute der Lady mussten über die große Drachenbrücke gekommen sein, vielleicht wussten sie nichts von den Echos, vielleicht waren sie nur auf einer Patrouille oder suchten den Schwarzmarkt, zu dem Jade und Lilinn unterwegs gewesen waren. Mit klopfendem Herzen spähte sie in die Gassen, suchte nach den Echos, einer Bewegung, irgendeinem Hinweis. Als sie einen kurzen Blick nach unten warf, bemerkte sie, dass Lilinn nicht mehr neben der Mauer stand, vermutlich hatte sie sich versteckt. Jade wusste, dass die Köchin vor Wut schäumte. Sie konnte sich auf Vorwürfe gefasst machen, aber das spielte nun keine Rolle. Wo waren die Echos? Jade kniff die Augen zusammen. Dort, in der alten Färbergasse am Kanal: Pfützen auf dem Boden, eine Spur von Tropfen! Und – sie duckte sich unwillkürlich – eine gleitende Bewegung, der Faltenwurf eines Lumpens. Schon war das Phantom hinter einer Häuserecke verschwunden. Die Echos waren also stadtauswärts nach Süden unterwegs. Offenbar wichen sie vor dem Hundegebell zurück und hatten Jade und Lilinn aus den Augen verloren. Erleichtert atmete sie auf. Jetzt galt es nur noch, den Jägern der Lady zu entkommen. Soweit sie von ihrem Aussichtspunkt erkennen konnte, kamen sie im Bogen auf den Stadtpalast zu. Es waren etwa ein Dutzend, jeder von ihnen führte einen Hund. Die Galgos – braunweiß gestromte, schlanke Jagdhunde – warteten nur darauf, von den Leinen gelassen zu werden. Jade ließ sich über den steinernen Bogen gleiten, hangelte sich nach unten und warf einen prüfenden Blick zur Straßenecke. Lilinn hatte auch ihren Rucksack und ihre Schuhe in Sicherheit gebracht. Gut!
    Mit einem geschmeidigen Satz landete sie auf dem Boden, federte den Schwung des Aufpralls mit den Händen ab – und fühlte Nässe an ihren Fingern. Erschrocken schoss sie hoch und starrte ihre Hände an. Die Echos waren nicht nur in der Nähe gewesen, sondern direkt am Haus! Bestimmt hatte Lilinn sich deshalb so schnell in Sicherheit gebracht.
    »Komm raus!«, flüsterte Jade in den Schatten. »Die Echos sind weg, aber die Jäger kommen genau auf uns zu!«
    Keine Antwort. Jade versuchte, das Sirren in ihrem Magen zu ignorieren. Getrappel ertönte in der Nähe, heiseres Bellen, Steinschlag und Geprassel, als
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