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Fata Morgana

Fata Morgana

Titel: Fata Morgana
Autoren: Agatha Christie
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erwartet. Das Leben eines jeden Menschen hat sein Tempo. Bei Ruth war es ein Presto, Miss Marple begnügte sich mit einem Adagio.
    Sie hatte sich also mit der Amerikanerin Ruth recht häufig getroffen, während sie Carrie Louise, die in England lebte, seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Seltsam, aber eigentlich ganz logisch, denn mit alten Freundinnen, die im selben Land leben, braucht man keine Treffen zu arrangieren. Man verlässt sich darauf, dass man sie früher oder später auch ohne Regie treffen wird. Nur, das geschieht nie, wenn man sich in verschiedenen Sphären bewegt. Die Wege von Jane Marple und Carrie Louise kreuzten sich nicht. So einfach war das.
    »Warum machst du dir Sorgen um Carrie Louise, Ruth?«, fragte Miss Marple.
    »Gerade das macht mir ja die meisten Sorgen! Ich weiß es einfach nicht.«
    »Sie ist doch nicht krank?«
    »Sie ist sehr zart – schon immer gewesen. Ich würde nicht sagen, dass es ihr schlechter ging als sonst, wenn man bedenkt, dass sie ja auch in die Jahre gekommen ist, genau wie wir.«
    »Unglücklich?«
    »Nein, nein.«
    Nein, das kann nicht sein, dachte Miss Marple. Schwer vorstellbar, Carrie Louise könnte unglücklich sein – obwohl es auch in ihrem Leben Zeiten gegeben haben musste, in denen sie unglücklich gewesen war. Nur, es wollte sich kein klares Bild einstellen. Durcheinander – ja, fassungslos – ja, aber gramgebeugt – nein.
    Mrs Van Rydocks Antwort kam wie eine Bestätigung ihrer Gedanken. »Carrie Louise«, sagte sie, »hat immer außerhalb dieser Welt gelebt. Sie kennt sie überhaupt nicht. Vielleicht ist es das, was mir so Sorgen macht.«
    »Ihre Lebensumstände«, setzte Miss Marple an, doch dann hielt sie inne und schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Nein, es liegt an ihr selbst«, sagte Ruth Van Rydock. »Carrie Louise war immer diejenige von uns, die Ideale hatte. Sicher, in unserer Jugend war es Mode, Ideale zu haben – wir alle hatten welche, das gehörte sich einfach für junge Mädchen. Du wolltest die Aussätzigen pflegen, Jane, und ich wollte Nonne werden. Aus derlei Unsinn wächst man heraus. Die Ehe, so könnte man vielleicht sa gen, treibt einem das aus. Wobei ich im Großen und Ganzen mit der Ehe nicht schlecht gefahren bin.«
    Das war leicht untertrieben, fand Miss Marple. Ruth war dreimal verheiratet gewesen, jedes Mal mit einem schwerreichen Mann, und die Scheidungen hatten ihr Bankkonto anschwellen lassen, was ihr keineswegs die Laune verdorben hatte.
    »Sicher«, sagte Mrs Van Rydock, »ich war immer hart im Nehmen. Mich wirft so schnell nichts um. Ich habe nicht zu viel vom Leben erwartet, schon gar nicht von den Männern, und das hat sich ausgezahlt. Außerdem ging es immer ohne böses Blut ab – Tommy und ich sind heute noch gute Freunde, und Julius holt sich oft geschäftlichen Rat bei mir.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Ich glaube, das ist der Grund, weshalb ich mir Sorgen um Carrie Louise mache – sie hat immer dazu geneigt, Spinner zu heiraten, weißt du.«
    »Spinner?«
    »Männer mit Idealen. Carrie Louise fand Ideale immer unwiderstehlich. Siebzehn war sie und bildhübsch, siebzehn erst, und hörte mit Augen so groß wie Untertassen zu, wie der alte Gulbrandsen von seinen Plänen für die Menschheit schwärmt. Er war über fünfzig, und sie hat ihn geheiratet, einen Witwer mit erwachsenen Kindern, nur wegen seiner philanthropischen Ideen. Sie hat dagesessen und ihm wie gebannt zugehört. Genau wie Desdemona und Othello. Nur dass zum Glück kein Jago da war, der alles kaputtgemacht hätte – und Gulbrandsen war natürlich auch kein Mohr. Er war Schwede oder Norweger oder so was.«
    Miss Marple nickte nachdenklich. Gulbrandsen war weltbekannt. Ein Mann, der mit genialem Geschäftssinn und unbedingter Redlichkeit ein so gigantisches Vermögen angehäuft hatte, dass Philanthropie die einzige Möglichkeit war, es wieder loszuwerden. Der Name hatte noch immer einen guten Klang. Der Gulbrandsen-Trust, die Gulbrandsen-Forschungsstipendien, die Gulbrandsen-Armenhäuser und vor allem das riesige College für Arbeitersöhne.
    »Sie hat ihn nicht wegen seines Geldes geheiratet, weißt du«, sagte Ruth. »Für mich wäre das der einzige Grund gewesen, wenn ich ihn überhaupt geheiratet hätte. Aber bei Carrie Louise war es anders. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn er nicht gestorben wäre, als sie zweiunddreißig war. Zweiunddreißig ist ein ideales Alter für eine Witwe. Sie hat Erfahrung, kann sich aber
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