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Fast genial

Fast genial

Titel: Fast genial
Autoren: Benedict Wells
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seine
Chips von Rot auf Schwarz um. Seine Hilfsbereitschaft war also nicht ganz
uneigennützig gewesen.
    Der Croupier sah noch mal in die Runde. „Rien ne va
plus“, wiederholte er mit schwacher Stimme. „Nichts geht mehr, endgültig.“
    Kurz darauf wurde die Kugel deutlich langsamer. Nun
wurde es ernst. Francis hielt es kaum mehr am Tisch aus, seine Hände zitterten,
als wäre er ein alter Mann. Er hatte das Gefühl, sein Geist würde aus seinem
Körper treten und über ihm schweben. Francis sah sich mit seinen kurzgeschorenen
Haaren am Roulettetisch stehen. Er trug das geliehene Angestelltenjackett und
starrte auf den Kessel mit der Kugel. Die anderen Spieler blickten immer wieder
zu ihm. Auch er sah sich zu, wie er am Tisch stand und tatsächlich gerade
alles gesetzt hatte, nicht nur das Geld, sondern sein Leben und das seiner
Mutter, und vielleicht auch das von Anne-May und John.
    Es war alles so verrückt. Er ließ wirklich eine
winzige weiße Kugel über sein Schicksal entscheiden. Andererseits wusste er,
dass er hier richtig war, denn das Leben war ohnehin nichts anderes als
Roulettespielen. Mal hatte man Glück, lebte in einem reichen Land oder war mit
Gesundheit und Intelligenz gesegnet, mal hatte man Pech und war leider dumm,
bekam Krebs oder kam in einem Slum von Afrika auf die Welt und starb, ehe man
das Wort „sterben“ überhaupt buchstabieren lernte. Der Inhalt der einen Ampulle
war von einem Genie, der der nächsten zufällig von einem Betrüger. Es war alles
willkürlich und wahnsinnig, wieso also nicht gleich nach Las Vegas fahren und
dort um Leben und Tod spielen. Da setzte man sich der Ungerechtigkeit
wenigstens freiwillig aus, im Grunde war das der einzige ehrliche Ort auf
dieser Erde.
    Eine kleine weiße Kugel war nun also sein Richter,
und der kurze Moment, in dem sie endlich langsamer werden und liegen bleiben
würde, wurde für Francis zu einer Ewigkeit. Sein bisheriges Leben wäre danach
vorbei, und wie in dem Augenblick kurz vor dem Tod sah er vor seinem geistigen
Auge noch einmal alles, was ihm etwas bedeutet hatte.
    Er dachte wieder an die Szene aus Blade Runner, in der
der Replikant sagte, dass all diese Momente einmal verlorengehen würden wie
Tränen im Regen. Und dann dachte er an den Erdbeerkuchen, den seine Mutter
immer gemacht hatte, wenn er Geburtstag hatte. An seine Niederlagen beim Ringen
und an die leeren Augen seiner toten Katze. An das eine Mal im Schwimmbad, als
er als kleines Kind untergegangen war und furchtbare Angst gehabt hatte, Angst
vor etwas, was ihm noch völlig unbekannt war, nämlich dem Tod. Er dachte
daran, wie er mit Ryan und seiner Mutter früher im Park spazieren war, wie die
beiden ihn in ihre Mitte nahmen und bei drei hochfliegen ließen. Oder daran,
wie seine Mutter am Küchentisch geweint hatte, als Ryan gegangen war. Wie sie
kurz darauf in der Klinik gelegen und wirres Zeugs geredet hatte und wie er
lernen musste, dass er nun zwei Mütter hatte, eine, die er liebte, und die andere,
die so aussah wie seine Mutter und die krank war und die er noch mehr lieben musste. Er dachte
an seinen kleinen Bruder, der einen richtigen Vater mit guten Genen hatte, und
wie selten er ihn nur noch sah und dass er ihn vermisste. Und dann dachte er daran,
dass Nicky noch immer viel zu klein für sein Alter war und wie sie alle so
taten, als ob sie es nicht bemerkten. Ihm fiel wieder ein, wie er zum ersten
Mal ein Mädchen geküsst hatte, Becky Larado, es war eigentlich ganz eklig und
feucht gewesen, und obwohl er sich gefragt hatte, was am Küssen so toll sein
sollte, wollte er es immer wieder tun. Er erinnerte sich an die Unreal-Tournament-T'aruen mit Grover und wie dieser früher auf dem Schlagzeug
gespielt hatte, während er selbst dazu tanzte. Oder an all die Male, die er bei
Grover übernachtet hatte, und wie sie sich nach dem Lichtlöschen noch
stundenlang unterhalten hatten. Er dachte daran, wie er als kleines Kind im
Park eine Glasscherbe gefunden hatte, die im Sonnenlicht leuchtete, und wie er
in diesem Moment so glücklich war wie noch nie in seinem Leben. Und er dachte
an den mutlosen und apathischen Jungen, der er irgendwann danach geworden war,
und dass er nun im richtigen Moment wieder mutig war und um alles spielte.
Dann fiel ihm ein, wie die kleine Hannah Peckar vor ein paar Jahren Leukämie
bekommen hatte, sie hatte nur ein paar Trailer weiter gewohnt. Hannah war so
ein süßes kleines Mädchen gewesen, alle hatten sie gemocht, und sie hatte sich
für
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