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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie
Autoren: Thomas Weiss
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    • Der Konflikt wurde nicht aus der Lebensgeschichte der Patientin erklärt, sondern als Ausdruck eines Beziehungsproblems (zu den Eltern in erster Linie) verstanden. Deswegen bezogen sich die Fragen hauptsächlich auf die Gegenwart und die Zukunft.
    • Der Therapeut nahm eine relativ aktive Rolle ein und stellte eine Reihe von Fragen. Viele dieser Fragen bezogen nicht anwesende Dritte mit ein.
    • Die Stunde war äußerlich gegliedert, der Therapeut legte eine Pause ein.
    • Er gab einen Ratschlag (Intervention), der für die Patientin überraschend war.
    Das ist bereits eine Reihe von Merkmalen der systemischen Einzeltherapie, die in diesem Buch dargestellt werden sollen.
    Seit 1970 hat sich die Familientherapie in Deutschland, insbesondere angeregt durch Helm Stierlin, weit verbreitet. Heute, fast 40 Jahre später und 20 Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches, zählt sie zu den etablierten Therapierichtungen.
    Auch wenn mittlerweile manches selbstverständlich geworden ist, lohnt es sich dennoch, einen Blick auf die ursprünglichen Grundlagen systemischer Therapie/Familientherapie zu werfen. Was war neu an dieser Perspektive und warum systemische Einzel therapie? Neu waren vor allem folgende Elemente:
    • Pathologie wurde auf dem Boden einer gestörten Kommunikation gesehen.
    • Die rein individuelle Perspektive wurde zugunsten eines Systemverständnisses überwunden.
    • Familien als eines der wesentlichen Systeme in unserem Leben rückten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der therapeutischen Aktivität.
    • Statt einzelne, als krank bezeichnete Personen zu behandeln, therapierte man immer mehr ganze Familien.
    Dabei gab der Erfolg dem Ansatz recht: Kürzere Behandlungszeiten und verblüffende Erfolge bei scheinbar chronifizierten Problemen waren an der Tagesordnung. Nicht unerwähnt soll jedoch bleiben, dass die Väter und Mütter der
Familientherapie in der Regel bereits äußerst erfahrene Therapeuten waren.
    Allerdings tauchten bald Probleme auf. Nicht alle Familien waren bereit, als ganze Familie zur Therapie zu erscheinen. Beispielsweise in der Praxis eines Arztes oder in einer Beratungsstelle war und ist eine Mehrzahl der Patienten nicht ohne Weiteres willens oder in der Lage, die Familie mit heranzuziehen. Auch lehnten manche Institutionen ein familienbezogenes Vorgehen aus äußeren oder inneren Gründen ab. Zuletzt mochte auch mancher Therapeut lieber mit einzelnen Patienten arbeiten als mit ganzen Familien.
    Was dann? Heißt das, auf ein systemisches Verständnis verzichten zu müssen? Ist die reale Anwesenheit der Familie tatsächlich immer notwendig?
    Längere Zeit hätte man die beiden Fragen sicher bejaht. Galt anfangs doch das Dogma, alle Familienmitglieder, die im selben Haushalt leben, müssten gemeinsam kommen. Nur so glaubte man, eine Perspektive des ganzen Beziehungsgeflechtes zu gewinnen, in das das Symptom eingebunden ist.
    Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches hat sich diese Auffassung geändert. Mehr Erfahrung wurde gesammelt, die Technik wurde flexibler gehandhabt. Dabei zeigte es sich, dass auch in der Einzelsituation das aktuelle Beziehungssystem zur Basis des Verständnisses werden kann. Es wurde auch deutlich, dass die Einzelsituation keineswegs so isoliert ist, wie anfänglich vermutet. Tatsächlich steht auch die Einzeltherapie immer in »unterirdischer« Verbindung mit der Familie. Wie in einem System von kommunizierenden Röhren beeinflusst das Verhalten des einen immer auch das Verhalten der nicht anwesenden anderen. 1 Es kommt lediglich darauf an, diese Verbindung theoretisch zu erkennen und technisch zu berücksichtigen. Ein großer Teil des Buches wird sich mit solchen Techniken befassen, die die Einbindung des Beziehungskontextes in der Einzeltherapie garantieren.
    Statt also ein Symptom aus der individuellen Lebensgeschichte eines Patienten zu verstehen, wie dies in vielen Individualtherapien
üblich ist, steht nun die aktuelle Familie im Vordergrund. Damit wandelt sich die Auffassung von einer historischen eher in eine gegenwartsbezogene. 2
    Dieses Buch entstand in der erwähnten Spannungssituation und ich durchlief selbst den beschriebenen Wandel. Während sich meine Krankheitsauffassung immer mehr von der Individualpathologie zum Systemverständnis entwickelte, arbeitete ich Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts in einem beruflichen Kontext, in dem ganze Familien noch nicht ohne Weiteres zu behandeln waren. Deswegen
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