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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie
Autoren: Thomas Weiss
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einfache Summation von Einzeleffekten sind. Zwar existieren bereits Kenntnisse über einzelne Kombinationen, die ganz besonders schädlich sind. Von einem Verständnis der permanenten Interaktion ist die Medizin allerdings noch weit entfernt.

    Diese Überlegungen sind keineswegs nur theoretisch von Interesse. Ältere Patienten können zehn und mehr Medikamente gleichzeitig einnehmen. Bei einer solchen Häufung von Pillen kann man allein 45 unterschiedliche Zweier-Gruppen von Tabletten bilden. Gesichertes Wissen über die Interaktion der Paare miteinander ist erstaunlich gering und liegt bei unter zehn Prozent. Wollte man alle denkbaren Kombinationen von zehn Präparaten aus den mehr als 50 000 Arzneimitteln bilden, die in Deutschland im Handel sind, käme man auf astronomisch hohe Kombinationszahlen. Niemand ist in der Lage, diese Interaktionen auch nur ansatzweise zu überblicken. Zum Glück ist unser Körper offenbar besser in der Lage, sich auf die Vielfalt einzustellen, als unser Geist. In den allermeisten Fällen kann er mit der Gleichzeitigkeit der Medikamentenzufuhr gut umgehen. Doch, so schätzt man, bei jeder 300. Verabreichung ist mit relevanten Wechselwirkungen zu rechnen. 10 000 bis 50 000 Todesfälle pro Jahr sollen auf das Konto der unkalkulierbaren Wechselwirkungen gehen. 4
    Das Denken in Regelzusammenhängen und in Dimensionen von gleichzeitiger Abhängigkeit ist im Alltag auch au ßergewöhnlich schwierig, da Sprache und Denken sequenziell (erst dies, dann jenes) aufgebaut sind und eine Systembeschreibung sprachlich nur mühsam zu leisten ist.
    Der Einzug der Systembetrachtung in die Psychotherapie fand zuerst in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA statt. Mehrere Gruppen begannen sich mit Familien zu beschäftigen und entwickelten dabei Vorstellungen von Regelzusammenhängen innerhalb der Familien. Sie verstanden die Krankheit eines Familienmitgliedes nicht mehr als dessen individuelle Problematik, sondern sahen das Phänomen der Krankheit als einen Ausdruck der Struktur der Beziehungen in der Familie. Damit wechselte also die individuell genetische (historische) Perspektive zu einer Betrachtung der gegenwärtigen Strukturen. Natürlich konnten die verschiedenen Autoren (Ivan Boszormenyi-Nagy, Jay Haley, Salvador Minuchin, Paul Watzlawick, Carl A. Whitaker, Lyman C. Wynne, um nur
einige zu nennen) sich auf therapeutische Vorläufer stützen, die bereits früher einen therapeutischen Stil praktizierten, der systemische Gesichtspunkte berücksichtigte, ohne notwendigerweise ein explizites Systemverständnis für ein Symptom zu haben. Besonders möchte ich hier die Arbeit von Alfred Adler und Viktor Frankl schildern.
    Alfred Adler, 1870 in Wien geboren, war ein früher Schüler Sigmund Freuds. Er entwickelte allerdings seine eigenen Vorstellungen, und 1911 kam es zum Bruch mit dem Lehrmeister. Adler gab beispielsweise einige therapeutische Ratschläge, die zu seiner Zeit ungewöhnlich waren und Elemente der systemischen Therapie erkennen lassen. So beschrieb er die folgenden Situationen:
    »Ein Patient fragte mich lächelnd: ›Hat sich bei Ihnen in der Kur schon jemand das Leben genommen?‹ Ich antworte ihm: ›Noch nicht, aber ich bin jederzeit darauf gefasst.‹ (...)
    Eine 27-jährige Frau, die, nachdem sie fünf Jahre gelitten hatte, mich konsultierte, sagte: ›Ich habe so viele Ärzte aufgesucht, dass Sie meine letzte Hoffnung im Leben sind.‹ ›Nein‹, antworte ich, ›nicht die letzte. Vielleicht die vorletzte. Es gibt sicherlich andere, die Ihnen auch helfen könnten.‹
    (...) die Vorhersage einer Möglichkeit von Verschlimmerungen bei Fällen von Ohnmachtsanfällen, Schmerzen oder Platzangst enthebt einen für den Anfang eines großen Stückes Arbeit: die Anfälle bleiben in der Regel aus – was unsere Anschauung über den starken Negativismus des Nervösen bestätigt. Sich eines Teilerfolges sichtlich zu freuen oder gar sich zu rühmen, wäre ein großer Fehler. Die Verschlimmerung ließe nicht lange auf sich warten...«. 5
    Und weiter schreibt Adler:
    »Einer meiner Patienten entwickelte in einer Gefühlsspannung, die aufkam, wenn er ins Freie trat, Magen- und Atembeschwerden. Viele Neurotiker schlucken Luft, wenn sie in einen Spannungszustand geraten. Dies wiederum verursacht Blähungen, Magenbeschwerden, Angst und Herzklopfen, au ßerdem beeinflusst es die Atmung. Als ich ihm diesen seinen
Zustand vergegenwärtige, stellt er die übliche Frage: ›Was soll ich gegen das
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