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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie
Autoren: Thomas Weiss
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erweiterte sich mein Interesse an der systemischen Therapie notgedrungen auf die Individualbehandlung. Ich wendete also systemische Techniken in entsprechender Abwandlung in der Einzelsituation an. Zu meiner Überraschung war der Erfolg durchschlagend. Noch eindrücklicher war aber die Rückwirkung der Arbeitsweise auf mich selbst. Ich war früher oft in ähnlicher Weise bedrückt und belastet aus den Therapiestunden gegangen, wie meine Patienten sie betreten hatten. Dies war zwar unerfreulich – ich tröstete mich aber mit der Auffassung, das persönliche Leiden des Therapeuten sei Teil einer guten Therapie. Die neue Sichtweise führte mich zu einer weniger masochistischen Auffassung. Die gleichen Patienten erschienen mir überraschenderweise in einem ganz anderen Licht. Statt sie als »chronifiziert« oder »im Widerstand« anzusehen, sah ich nun eine Fülle von Veränderungsmöglichkeiten, die mich persönlich sehr entlasteten. Zudem erlaubte mir die neue Technik sehr viel mehr Phantasie und Humor, als ich mir das vorher gestattet hätte. In meiner anfänglichen Arbeit mit Einzelpatienten sah ich in der systemischen Einzeltherapie einen Ersatz für die Fälle, in denen Familien aus äußeren oder inneren Gründen nicht erreichbar waren. Bald stellte sich die Sachlage anders da: systemische Einzeltherapie als durchaus eigenständige Position. Systemische Anteile können jeden Einzelkontakt wesentlich informativer gestalten.
    Mein Wunsch ist es, dem Leser einen Teil der Entlastung und Bereicherung zu vermitteln, die die Arbeit für mich sehr
viel anregender werden ließ. Der Schwerpunkt des Buches liegt deshalb auf der Praxis und der Anwendung der systemischen Einzeltherapie. Dazu wird eine Vielzahl von technischen Hinweisen und Beispielen gegeben. Die notwendige Sichtweise wird der Leser vermutlich erst langsam und durch eigene Erfahrungen gewinnen. Sie sprachlich zu vermitteln, stößt nach meiner Auffassung auf Grenzen. Zudem gibt es ausgezeichnete Einführungen in die theoretischen Grundlagen. 3 Ich hoffe, dass die zahlreichen Fallschilderungen dieses Buches die systemische Sichtweise lebendig werden lassen.
    Zuletzt möchte ich noch erwähnen, dass die eingangs beschriebene Patientin das Wochenende bei den Eltern sehr gut meisterte. Sie gewann durch die Verschreibung eine Reihe von Einsichten über ihre Art der Beziehung zu den Eltern, obwohl davon, streng genommen, in der Intervention nicht die Rede gewesen war.

VON DER SYSTEMTHEORIE ZUR SYSTEMISCHEN THERAPIE
    Bevor in diesem Buch von Psychotherapie die Rede ist, soll der Rahmen dargestellt werden, in dem die systemische Therapie steht. Dazu muss ich etwas weiter ausholen.
    Wissenschaftliches Denken vollzieht sich stets in bestimmten Weltbildern. Lange Zeit war das vorherrschende Weltbild von der Mechanik geprägt. Bis an das Ende des 19. Jahrhunderts ließen sich alle Wissensbereiche in den Kategorien der Mechanik befriedigend verstehen. Die Bewegung der Elektronen um den Atomkern genügte den gleichen Gesetzen wie die Bewegung der Planeten um die Sonne oder die Bewegung
von Himmelskörpern im Allgemeinen. Auch auf anderen Gebieten stand die Mechanik Pate: Das Denken vollzog sich in Ursache-Wirkungs-Kategorien, in Alles-oder-nichts-Gesetzen. Dieses Denken hatte nach Descartes die Fortschritte der Technik und Wissenschaft begründet. Selbst Bereiche, die von der Physik weit entfernt waren, wie die Psychiatrie oder Psychotherapie, waren selbstverständlich von dem gängigen Vorbild des wissenschaftlichen Denkens geprägt. So ist es kein Zufall, dass auch Sigmund Freud sich in mechanischen Kategorien ausdrückte, also in einer Sprache, die heute teilweise »psychohydraulisch« erscheint.
    Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden zuerst vonseiten der Mathematik und der Physik Zweifel an der allgemeinen Gültigkeit des mechanistischen Weltbildes angemeldet. 1 Al bert Einstein formulierte seine Relativitätstheorie, in der so unterschiedliche Phänomene wie Energie und Masse unter einer Formel integriert wurden. Auch wies er nach, dass die Dichotomie von Korpuskel und elektromagnetischer Welle nur in der menschlichen Wahrnehmung besteht, dass es tatsächlich jedoch sehr wohl verschiedenartige Manifestationen derselben Sache sein können.
    Später kamen aus der Atomphysik weitere Beobachtungen, die eine neue Art des Denkens erforderten. Besonders bekannt wurde die Unschärferelation von Werner Heisenberg, die besagt, dass man von einem Körper (besonders von sehr
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