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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie
Autoren: Thomas Weiss
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eher um ihre Gesundheit besorgt. Er empfahl ihr, doch einen Arzt aufzusuchen.
    Martha blieb eine ganze Weile skeptisch. Sie vermutete, ihr Mann habe lediglich noch nicht das Ausmaß ihrer Verfehlungen verstanden. Das dicke Ende käme noch. Erst im Verlauf mehrerer Wochen, in denen sie die Geschichte noch ein paar Mal erwähnte, überzeugte sie sich davon, dass ihr Mann sie tatsächlich nicht ablehnte.
    Einige Zeit später fasste sie sich deswegen ein Herz und suchte einen Arzt auf, der sie dann in die erwähnte Gruppenpsychotherapie vermittelte. In der Behandlung wurde Martha die sehr enge Bindung an ihre Mutter deutlich, mit der sie täglich mindestens einmal telefonierte. Besuche waren seltener, da die Mutter 600 Kilometer entfernt wohnte.
    Die Mutter war die dominierende Person in Marthas Herkunftsfamilie. Früher hatte sie als Chefsekretärin gearbeitet, musste ihre berufliche Stellung wegen Schwierigkeiten der Firma jedoch frühzeitig aufgeben. Danach hatte sie nicht wieder gearbeitet. Marthas Vater war angelernter Arbeiter in einer Metallwarenfabrik und der Mutter weit unterlegen.
    Martha kam als ältestes von fünf Kindern zur Welt. Alle hatten eine Ausbildung abgeschlossen. Die Patientin selbst war, wie die Mutter, sehr ehrgeizig und hatte es zu einer beruflichen Position gebracht, auf die sie durchaus stolz war: Sie leitete eine Werbeabteilung in einer Bank. Dort hatte sie sich eine sehr angesehene Stellung geschaffen, weil sie durch Kreativität und Fleiß ihrer Abteilung auch im weiteren Umkreis Ansehen verliehen hatte.

    Während der Gruppentherapie machte die Patientin bald einige Fortschritte. Die Essanfälle wurden seltener, und das Gewicht ging von 90 auf 70 Kilogramm zurück. Auch in der Beziehung zum Ehemann erlebte Martha eine neue Intimität. Die Gruppentherapie ging schließlich zu Ende, und ich hatte von der Patientin eine Weile nichts mehr gehört.
    Als Martha am folgenden Tag bei mir erschien, war sie verzweifelt. Alles sei wieder so schlimm wie zu den schlimmsten Zeiten. Sie würde täglich mehrfach Essanfälle bekommen und erbrechen, pendelte teilweise zwischen Kühlschrank und Toilette hin und her. Das Leben hinge ihr »zum Hals heraus«, alles »kotze sie an«, so ginge es nicht weiter, sie habe schon an Selbstmord gedacht – ganz so weit sei sie aber noch nicht. Nachdem Martha noch eine Weile über die Beschwerden geklagt hatte, stellte ich ihr eine Reihe von Fragen, da mir vollständig rätselhaft erschien, warum es zu dieser Verschlechterung gekommen war: »Wir haben uns ja eine ganze Weile nicht gesehen. In der letzten Zeit ging es Ihnen wirklich schlecht. Aber erzählen Sie mir auch, ob es eine Phase gab, in der es Ihnen besser ging als jetzt. Wann haben Sie sich das letzte Mal fröhlich oder ausgelassen gefühlt? Wann haben Sie das letzte Mal ohne Schuldgefühle gut gegessen?«

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    Martha berichtete zu meiner Verwunderung, dass es ihr in den letzten vier Monaten mehr als zwei Monate lang sehr gut gegangen sei. In dieser Zeit habe sie ein normales Essverhalten gehabt. Einen Anfall pro Woche »genehmige« sie sich, ohne das gehe es wohl noch nicht. Sie habe während des Sommers Anschluss an einen FKK-Club gewonnen, den sie mit ihrem Mann an schönen Tagen besuche. Dabei sei ihr aufgefallen, wie viele dicke Menschen es gäbe. Vergleichsweise schneide sie immer noch ganz gut ab. Das Verhältnis zu ihrem Mann sei auch viel besser geworden. Der Umschwung sei so etwa vor sechs Wochen gekommen.
    Nach wenigen weiteren Fragen war der Besuch von Marthas Eltern als Auslöser für die Verschlechterung gefunden. Nun stehe, das erzählte Martha sichtlich bewegt, ein Gegenbesuch
bei den Eltern an. Seitdem das klar sei, gehe es ihr von Tag zu Tag schlechter.
    Ich ließ mir von der Patientin schildern, wie die Besuche bei den Eltern üblicherweise ablaufen würden. Normalerweise, so sagte sie, würde sie ziemlich fröhlich dort hinfahren, erzähle den Eltern von ihren letzten Unternehmungen und beruflichen Erfolgen. Nach einer Weile spüre sie aber, wie es ihr immer schlechter gehe, je länger sie bei den Eltern sei. Sie würde sich hässlich und dick vorkommen, ziehe sich dann auch weniger hübsch an, fange schließlich an, heimlich zu essen, bis sie sich am Ende wie am Boden zerstört fühle. Ich stellte der Patientin einige Fragen nach dem genauen Ablauf:
    »Was macht denn Ihr Vater, wenn Sie von Ihren Erfolgen berichten?«
    Martha: »Der sagt selten etwas. Der
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