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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie
Autoren: Thomas Weiss
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hält sich zurück.«
    »Wie reagiert die Mutter auf Ihre Erzählung?«
    Martha: »Die sagt eigentlich auch kaum etwas.«
    »Wenn ich Ihren Mann fragen würde, wie seine Frau sich verhält, wenn deren Eltern so schweigend zuhören, was würde der mir antworten?«
    Martha überlegte eine Weile: »Der würde sagen, die strengt sich noch mehr an, erzählt noch mehr.«
    »Hilft das?«
    Martha: »Nein.«
    »Wenn ich Ihren Mann frage, warum sich seine Schwiegereltern so verhalten, was sagt er dann?«
    Martha: »Ich weiß nicht.«
    »Wenn Sie einfach schätzen, Sie kennen ihn ja sehr gut.«
    Martha: »Vielleicht, dass sich meine Eltern unwohl bei meiner Erzählung fühlen.«
    »Wenn ich in der Zeit unsichtbar anwesend sein könnte, in der Sie Ihre Eltern besuchen, was würde ich dann im Verlauf der nächsten Tage sehen?«
    Martha: »Na, vermutlich würden Sie sehen, wie ich mich langsam zurückziehe, wie ich mit missmutigem Gesicht herumlaufe, mich nicht mehr schminke und hässlich anziehe.«

    »Wie reagiert Ihre Mutter darauf?«
    Martha: »Die reagiert nicht.«
    »Was meinen Sie, wann verstehen sich die Eltern besser, in der Phase, wo Sie von Ihren Erfolgen berichten, oder in der Phase, wo Sie sich zurückziehen?«
    Martha nach langer Pause: »Vielleicht in der Phase, wo ich mich zurückziehe.«
    »Wann werden die Eltern wohl eher denken, dass Sie eine gute Tochter sind?«
    Martha überlegte eine Weile, lachte dann: »Es klingt verrückt, aber ich glaube, eher dann, wenn ich mich schlecht kleide und missmutig bin. Wenn es mir schlecht geht.«
    »Wenn ich Ihren Mann fragen würde, wie er sich das erklärt, was würde der mir sagen?«
    Martha: »Der würde wahrscheinlich sagen, dass meine Eltern dann sicherer sind, dass ich an sie gebunden bleibe.«
    Das Gespräch ging noch eine Weile über andere Themen, vor allem über die weitere Zukunft. Dann schlug ich der Patientin eine kurze Pause vor, in der ich mir einige Gedanken zu dem Gespräch machen wollte.
    Martha war damit einverstanden und wartete zehn Minuten im Wartezimmer, während ich mich an den Schreibtisch setzte und meine Gedanken ordnete. Ich schrieb einiges auf. Danach bat ich Martha, die mich erwartungsvoll anschaute, erneut herein:
    »Ich habe gehört, dass es Ihnen in der vergangenen Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, die längste Zeit sehr gut gegangen ist. Sie haben einen schönen Sommer mit Ihrem Mann verbracht, haben Ihr Essverhalten weitgehend in den Griff bekommen und zudem die Erfahrung gemacht, dass Ihr Körper ganz in Ordnung ist.« Martha nickte. »Ich erwähne das, weil ich es nicht für selbstverständlich halte. Sie kennen ja auch Zeiten, in denen das nicht so war.« Martha nickte. »Nun kam der Besuch der Eltern und die langsame Verschlechterung, die jetzt noch zunahm, wo Sie den Gegenbesuch bei den Eltern planen. Sie haben mich gefragt, was Sie tun können,
und ich möchte Ihnen für den Besuch bei Ihren Eltern etwas vorschlagen: Machen Sie sich für den kommenden Besuch wirklich hübsch. Ziehen Sie sich etwas an, was Ihnen gut steht, legen Sie ein Make-up auf und werden Sie sich Ihrer Erfolge im Leben noch einmal bewusst, bevor Sie losfahren. So fahren Sie mit Ihrem Mann zu den Eltern, gehen vielleicht mit ihm unterwegs schön essen und genießen die Fahrt, so gut es irgend geht. An der letzten Raststätte auf der Autobahn vor dem Wohnort der Eltern machen Sie bitte erneut eine Pause. Ziehen Sie sich dort vollständig um, kleiden Sie sich in Sack und Asche, machen Sie die Haare etwas wirr, entfernen Sie das Make-up und üben Sie bitte schon einmal so einen missmutig-resignierten Gesichtsausdruck. Stimmen Sie sich ein in ein Gefühl, wie Sie es nach einer Reihe von Essattacken kennen. Bei den Eltern erzählen Sie bitte nichts von Ihren Erfolgen, sondern überspringen den üblichen ersten Teil und gehen gleich zum zweiten über: Vermitteln Sie, wie bedrückt, krank und hässlich Sie sein können. Bemühen Sie sich bitte, das durchzuhalten, solange die Eltern anwesend sind. Heimlich dürfen Sie natürlich alleine oder zusammen mit Ihrem Mann eine Pause von der anstrengenden Rolle einlegen.«
    Martha wirkte nach meinen ersten Sätzen sehr verblüfft. Dann wurde sie zunehmend heiter. Zum Schluss lachte sie:
    »Oh ja, das ist toll, das kann ich gut!«
    Ich vereinbarte mit ihr einen weiteren Termin in sechs Wochen.
     
    So kann systemische Einzeltherapie aussehen. Was ist daran besonders? Ich hoffe, in dem Beispiel konnten einige Dinge erkennbar
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