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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie
Autoren: Thomas Weiss
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Symptomträgers (des Indexpatienten), sondern auf die Veränderung der Interaktionsmuster innerhalb der Familie. Dadurch wird das Symptom zur Aufrechterhaltung des pathologischen Gleichgewichtes nicht mehr notwendig und verschwindet wie von selbst.
    Eine weitere verbreitete Grundannahme unterschiedlicher Richtungen systemischer Therapie stammt aus der Chaostheorie. Sie besagt, dass in komplexen Systemen Veränderungen nur sehr schwer oder gar nicht vohersagbar sind. Schon sehr kleine Veränderungen haben möglicherweise unabsehbare Folgen. So soll die winzige Gravitation, die die gertenschlanke Lottofee auf die Kugeln bei der Ziehung der Lottozahlen ausübt, bereits ausreichen, deren Lauf zu beeinflussen. Dieser »Schmetterlingseffekt« 17 bedeutet für die Psychotherapie, dass die Vorstellung von »gezielten« Interventionen problematisch ist. Ein System reagiert häufig anders, als man denkt.
    Systemische Einzel therapie mag nach den bisherigen Ausführungen wie ein Widerspruch in sich selbst klingen.
War nicht der Ausgangspunkt der Therapie die Überwindung des individuellen Ansatzes durch die familiäre Perspektive?
    Nicht zufällig ist von systemischer Einzeltherapie erst nach der Konsolidierung der systemischen Familientherapie die Rede. Es ist keine Rückkehr zur Einzeltherapie, sondern eine weitere Verdichtung des systemischen Verständnisses. Die Entwicklungsspirale hat sich quasi von ihrem Ausgangspunkt (der Einzeltherapie) entfernt, sich komplexen Systemen (wie Familien) zugewendet und kehrt nun eine Stufe höher zur Einzeltherapie zurück. Dabei sollen in die systemische Einzeltherapie die Erkenntnisse eingebracht werden, die in der systemischen Familientherapie gewonnen wurden.
    Dieser Entwicklungsgang soll in den folgenden zwei Kapiteln nachvollzogen werden. Da nicht jeder Leser die bisher erwähnten Therapierichtungen kennen kann, möchte ich zwei Vorgehensweisen im Detail schildern. Die Auswahl ist subjektiv, aber nicht zufällig. Beiden therapeutischen Richtungen fühle ich mich persönlich verbunden, und beide erscheinen mir für das Thema der systemischen Einzeltherapie besonders ertragreich. Es ist zum einen die systemische Einzeltherapie des Mailänder Modells, das für mich in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts die überzeugendste Variante der Familientherapie war. Ich hatte Gelegenheit, über einen längeren Zeitraum diese Vorgehensweise von Gianfranco Cecchin und Luigi Boscolo zu lernen. Daneben wurde mein persönlicher Stil im Umgang mit Familien besonders von der lebendigen und humorvollen Technik von Gunthard Weber beeinflusst.
    Die zweite systemische Therapierichtung, die ich ausführlicher darstellen möchte, ist die Arbeitsgruppe aus Milwaukee. Ihr ist es gelungen, ein sehr klares und übersichtliches Konzept einer stark fokussierenden Kurztherapie zu erstellen. Während eines Studienaufenthaltes dort konnte ich die Vorgehensweise eingehend kennenlernen und am dortigen Institut mitarbeiten. Die Erfahrungen, die ich dabei sammeln konnte, haben meinen therapeutischen Stil außergewöhnlich bereichert.

DAS MAILÄNDER MODELL
    Ende der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts kündigte sich in Mailand eine Entwicklung in der Psychotherapie an, die für die Familientherapie von entscheidender Bedeutung werden sollte. Es begann damit, dass die Internistin und Psychoanalytikerin Mara Selvini Palazzoli (1916-1999) eine Neuorientierung in ihrer jahrelangen Beschäftigung mit Magersüchtigen suchte. Sie entschloss sich, ganze Familien zu sehen. Bei dieser Arbeit zog sie den Psychiater Luigi Boscolo hinzu, und beide fingen als Erste in Italien an, Familien und Paare zu behandeln. 1
    Nachdem beide erst auf einer analytischen Basis gearbeitet hatten, orientierten sie sich ab Anfang der 70er-Jahre am
Mental Research Institute, Palo Alto (MRI). Man studierte Jay Haley und Paul Watzlawick. Watzlawick selbst besuchte die Gruppe, die mittlerweile zusätzlich noch aus Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata bestand. Diese Gruppe wurde später als das »Mailänder Team« bekannt.
    Familien wurden in dieser Zeit häufig im Spannungsfeld von Homöostase und Transformation gesehen, von Stabilität und Wandel. Man beschäftigte sich mit den widersprüchlichen Botschaften der Familien, die sich auf der einen Seite ändern, auf der anderen Seite aber unbedingt alles beim Alten lassen wollten. Um mit dieser paradoxen Botschaft umgehen zu können, musste man in ähnlich paradoxer Weise auf die Beschwerden eingehen, um das
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