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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie
Autoren: Thomas Weiss
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gestellt, einen Abend ohne Ankündigung wegzugehen und auch im Nachhinein die Kinder nicht darüber zu informieren, was sie an diesem Abend unternommen hatten. Von Fall zu Fall wurden gewisse spezifische Änderungen angebracht, damit die Intervention auch zur betreffenden Familie passte. Der theoretische Hintergrund der Intervention bestand darin, in einer Familie klare Grenzen zwischen den Generationen zu setzen. Außerdem wurde ein Interaktionsmodus verändert, und das abendliche Ausgehen entwickelte eine Dynamik eigener Art in der Beziehung der Eltern. Zusätzlich wurden die Kinder neugierig, hegten Hoffnungen, Befürchtungen usw. Alles in allem konnte eine eingefahrene Situation durch ein neues Element belebt werden, indem für die Kinder ein Element »des nicht Vorhersehbaren« hinzugefügt wurde.
    Später richtete sich das Interesse von Mara Selvini Palazzoli mehr auf das systemische Verständnis von Organisati onen. 5

    Unabhängig von den dargestellten Entwicklungsschritten der Theorie und den unterschiedlichen Arten der therapeutischen Praxis hat sich ein Vorgehen herausgeschält, das als »das Mailänder Modell« bezeichnet werden kann. Ich möchte daher die allgemeinen theoretischen Grundannahmen und die Praxis des Vorgehens zusammenfassen, wobei ich mich an den Darstellungen von Karl Tomm orientiere.
    Eine der Grundannahmen ist es, den Menschen und seine seelische Struktur als soziales Wesen aufzufassen. Damit werden andere Seiten bewusst vernachlässigt; etwa biologische, nicht weil sie nicht existent sind, sondern weil diese Annahme für die therapeutische Praxis nützlicher ist. Beschwerden werden zusätzlich eher auf der Ebene der jetzt aktuellen Beziehungen verstanden als auf der Ebene der individuellen Psychogenese. Es wird also quasi eine »horizontale« Betrachtungsebene gewählt – im Gegensatz zu einer »vertikalen« Ebene, bei der die Betrachtung der Geschichte der Beschwerden (individuelle Psychogenese) im Vordergrund steht.
    Das ist eine bewusste Annahme, die keine höhere »Wahrheit« beansprucht, sondern lediglich praktikabler für die Therapie sein soll. Mit solch einer Sichtweise wird die Aufmerksamkeit auf die veränderbaren Anteile gelenkt.
    Eine zweite Annahme, die das Mailänder Team nützlich fand, geht zurück auf Gregory Bateson. Für das Verständnis der Seele fand es eine zirkuläre Auffassung eher geeignet als eine lineare. Als Zirkularität wird ein Verständnis bezeichnet, das sich von Ursache-Wirkungs-Beziehungen löst und Regelkreise an ihre Stelle setzt. Dabei wird das Verhalten eingebunden gesehen in miteinander vernetzte Feedback-Schleifen, die, jede für sich, Ausgangspunkt und Endpunkt von Veränderungen sind. In diese Feedback-Schleifen ist der Therapeut eingebunden, da seine Untersuchung, sein Handeln, wieder Auswirkungen auf die Familie hat und umgekehrt. So bedeutet Zirkularität eine bestimmte Wahrnehmungsweise der Phänomene in der Familie als auch eine bestimmte Handlungsweise des Therapeuten. Dieser ist sich
seiner Einbindung in das System bewusst und lässt sich bewusst vom Feedback der Familie leiten.
    Die neue Epistemologie 6 (Sichtweise, wie die Welt verstanden wird – innere Landkarte) ist zuerst schwer in Alltagsphänomenen nachvollziehbar, da Regelkreise nicht unmittelbar erlebbar sind. Für den Menschen vollziehen sich alle Ereignisse nacheinander. Deswegen werden häufig Phänomene, die nacheinander folgen, als kausal angesehen.
     
    Herr Müller zieht sich immer zurück, wenn seine Frau an ihm herumnörgelt. Er liest dann die Zeitung, fühlt sich gekränkt und außerdem im Recht. Schließlich hat er den ganzen Tag hart gearbeitet, da möchte er auch mal seine Ruhe haben. – Seine Sichtweise des Paarkonfliktes ist linear.
    Frau Müller sieht die Sache ganz anders: Immer wenn ihr Mann nach Hause kommt, zieht er sich zurück, und da ist es kein Wunder, wenn sie darüber enttäuscht ist und ihrer Enttäuschung Ausdruck verleiht. Schließlich ist sie den ganzen Tag alleine und möchte auch mal was reden. – Auch Frau Müller hat also eine lineare Auffassung der Situation.
     
    Der Therapeut kann nun die Ansicht A ➜ B (Nörgeln führt zu Rückzug – Herrn Müllers Version) oder B ➜ A (Rückzug führt zu Nörgeln – Frau Müllers Version) für »wahr« erklären. Vermutlich wird es sogar Anliegen des Paares sein, den Therapeuten zum Schiedsrichter zu machen. Es wird aber offensichtlich wenig nützen, wenn der Therapeut darauf eingeht, da sich der
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