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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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ist, andere Familienmitglieder zu veräppeln oder reinzulegen. Und es war ja auch nicht schlimm, man hätte mich ja auch in einen dunklen Keller einsperren und Lakengespenster auf mich hetzen können. Dennoch frage ich mich bis heute, was meine Eltern geritten hat, mir den Tag, auf den ich so lange gewartet und hingefiebert habe, so zu versauen. Er hatte zwar ein Happy-End, aber mich so wütend und traurig und enttäuscht so lange im Glauben zu lassen, dass ich keine Schultüte bekommen würde, mich der Schmach auszusetzen, ohne Schultüte losgehen zu müssen, wenn alle anderen Kinder mit ihrer unterwegs sind, das finde ich im Nachhinein immer noch irgendwie befremdlich und schockierend. Sich auf Kosten des eigenen sechsjährigen Sohnes lustig zu machen ist wahrlich nicht die feine englische Art. Es war kindisch. Und gemein.  Auf Fotos von damals sieht man deutlich das Vorher und das Nachher. Vorher sieht man mich mit verschränkten Armen und bockig in die Kamera gucken, man kann deutlich spüren, wie wütend ich bin. Und nachher ein gelöster, glücklicher Junge, der seine Schultüte stolz wie Oskar nach Hause trägt. Wirklich lachen darüber kann ich bis heute nicht.
    Wenn ich mal einen Sohn habe, werde ich ihm seine Schultüte schon morgens nach dem Aufwachen ans Bettchen bringen. Soviel ist sicher. Er soll diese Hölle nicht durchleben.

Du musst abnehmen!
    Der Familienmoppel, dem man einredete, dick zu sein
    Lena, 24, Betriebswirtin
     
    Ich habe eine Essstörung. Wenn ich mich nicht im Griff habe und mein Selbstbewusstsein im Keller ist, fühle ich mich hässlich und viel zu fett. Dann gibt es für mich nur eine Lösung: Exzessiv Sport machen. Und Finger in den Hals. Ich konnte das lange vor meiner Familie verbergen, doch gleichzeitig hasste sich sie dafür, dass ich offensichtlich immer dünner wurde, sie mich aber nie fragten, ob denn alles in Ordnung mit mir sei. Es war ein Tabu. Alle sahen, wie dünn ich geworden war, aber weder meine Mutter noch meine zwei Schwestern wollten es sehen. Einerseits wollte ich es vor ihnen verheimlichen, andererseits wünschte ich mir nichts mehr, als ihnen ins Gesicht zu klatschen „Verdammt noch mal, seht ihr denn nicht, dass ich krank bin?!“. Wie viel dünner musste ich noch werden, um endlich ihre volle Aufmerksamkeit zu bekommen? Sie kommentierten mein Aussehen schon, aber da hieß es dann nur so im Spaß und Vorbeigehen „Kind, du bist zu dünn, sieh mal zu, dass du was auf die Rippen bekommst!“, und damit war das Thema dann erledigt.
    Ich war dann immer hin und her gerissen. Einerseits freute mich der Kommentar, denn er gab mir Bestätigung. Mädchen in meinem Alter empfinden das „Du bist zu dünn!“ als Kompliment. Andererseits ärgerte es mich, dass sie es zwar bemerkten, aber offensichtlich nicht sehen wollten, was wirklich dahinter steckte. Mich ärgerte es, dass sie nicht weiter nachhakten. Denn „solche“ Probleme gab es in unserer Familie einfach nicht. Psychokram, das hatten nur die anderen, aber wir doch nicht. Wir hatten immer alles im Griff. Oder taten zumindest so. Erfolgreich im Job, erfolgreich im Leben. Da war kein Platz für Psychoscheiße. Oder Magersucht. Oder Bulimie.
    Irgendwann reichte es mir dann. Ich rief meine Mutter an und sagte ihr, was Sache ist. Ihre Reaktion schockiert mich noch heute. Statt betroffen oder schockiert oder einfühlsam reagierte sie so, als sei es ein lapidares Problem, dass man easy in den Griff bekommt.  „Ja, ich hatte so was schon geahnt“, sagte sie.  „Achja, und warum hast du dann nichts gesagt oder mich darauf angesprochen?“ fragte ich schnippisch zurück.  Schweigen. Ich merkte, wie unangenehm es ihr war, dass ich dieses Thema nun aufs Tapet gebracht hatte. Sie hätte lieber gern weiter die Unwissende gespielt, denn so musste sie sich nun mit „meinem Psycho-Scheiß“ auseinandersetzen. Insgeheim freute ich mich sogar ein kleines bisschen, sie so in die Bredouille gebracht zu haben. Sofort ratterte meine Mutter los, als gelte es, ein Geschäftsproblem zu lösen: „Also, da hilft nur eins, du musst zur Therapie. Such dir einen Psychologen oder eine Psychologin, ich übernehme auch die Kosten.“  Kein Wort von „Oh, das tut mir aber leid.“ Kein Wort von Bedauern oder Bestürzen. Sie wollte einfach nichts damit zu tun haben und das Problem aus der Welt schaffen, ohne sich selbst großartig zu involvieren. Ich war total enttäuscht.
    Wie gern hätte ich ein „Meine Kleine, warum, wie konnte es
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