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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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Ledertornister für mich aus. Ein hässliches Teil. Ich verzog mein Gesicht angewidert. „Aber du hast dich doch so auf deinen Ranzen gefreut!“ sagte meine Mutter empört. Ich druckste rum und zeigte stumm auf die Schultaschen, die ich toll fand. „Auf gar keinen Fall.“, sagte meine Mutter bestimmt, „das ist der letzte Plastikschrott und potthässlich.“ Ich wusste, dass ich keine Chance hatte, mich durchzusetzen. Meine Mutter war von ihrer Wahl restlos begeistert. „Das ist ein Klassiker! Den wirst du noch in der 10. Klasse tragen!“ Was für eine schreckliche Prophezeiung, zehn Jahre sollte ich das hässliche Teil jeden Tag mit mir rumschleppen? Warum konnte ich nicht Eltern wie jeder andere auch haben? „Außerdem haben alle diese hässlichen Ranzen! Das ist doch nicht schön, wenn man das hat, was alle haben!“, schob meine Mutter noch hinterher. Eltern scheinen einfach nicht zu verstehen, dass es für ein Kind nichts schlimmeres gibt, als nicht zu sein und nicht auszusehen wie alle anderen. Als Kind will man nicht individuell sein. Als Kind will man genau die Klamotten und die Spielzeuge haben, die alle anderen haben. Nur so fühlt man sich sicher und als Teil der Gruppe. Anderssein wird gnadenlos mit Schulhofmobbing bestraft. Und das fängt bei der Wahl des falschen Schulranzens an. Mein neuer beschissener Leder-Intellektuellen-Tornister schrie förmlich danach, gedisst zu werden. Ich brauchte nichts weiter zu tun und zu sagen, der Ranzen stempelte mich schon vorn vornherein als Streber ab. Na herrlich. Dabei hatte ich mich so auf die Schule gefreut. Warum müssen einem Eltern eigentlich immer einen Strich durch die Rechnung machen?
    Mein allergrößtes Objekt der Begierde war allerdings die Schultüte. Bei uns nannte man sie damals Zuckertüte. Schon immer starrte ich stundenlang in Bilderbüchern oder Zeitungen auf Abbildungen, auf denen Kinder mit Zuckertüten zu sehen waren. Ich beneidete schon als Dreijähriger die Schulanfänger, die sich stolz mit ihrer riesigen Zuckertüte im Arm zum ersten Mal auf den Schulweg machten. Ich wollte gern zur Schule gehen, aber noch viel mehr wollte ich eine Schultüte haben. Ich war so gierig auf das Teil, ich konnte nachts nicht schlafen. Ich malte mir aus, wie sie wohl aussehen würde. Auch hier hatte ich genaue Vorstellungen. Bloß nichts langweiliges Einfarbiges. Und am liebsten mit einem kleinen, neuen Kuscheltier, was oben rausgucken würde. Ich liebte Kuscheltiere und konnte nicht genug davon haben. Ich würde die Schultüte den ganzen Weg tragen und nicht aus der Hand geben, egal wie schwer sie wäre. Ich würde die ganze Zeit in den Tüll-Stoff lunsen, der die spitze Tüte oben verschloss, um zu erhaschen, was alles drin stecken würde. Ich würde zappelig den ganzen Begrüßungskram an der neuen Schule aushalten und dann so schnell wie möglich nach Hause wollen, damit ich endlich meine Schultüte auspacken kann. Selig schlummerte ich vor meinem großen Tag ein.
    Am nächsten Morgen krabbelte ich erwartungsvoll aus dem Bett. Ich lief nach draußen und war sofort enttäuscht. Nirgends eine Schultüte zu sehen. Ich war mir sicher, sie würde schon fertig gepackt auf dem großen Wohnzimmertisch liegen und auf mich warten. Aber nichts. Nur ein gedeckter Frühstückstisch. Na gut, dachte ich, dann werden sie mir die Schultüte sicher nachher geben, wenn wir loslaufen. Ich beruhigte mich selbst und war guter Dinge. „Hallo Guten Morgen, mein Schulkind!“, begrüßte mich meine Mutter. Sie nahm mich in den Arm, und heimlich lugte ich in der Küche umher, ob nicht doch irgendwo ein Schultütenzipfel hervorlugte. „Mami,“ flüsterte ich ihr leise ins Ohr, „wo ist denn meine Schultüte?“. Meine Mutter grinste: „Aber Schatz, was denn für eine Schultüte?“ Dann ließ sie mich stehen. Ich war entsetzt. Sie würden nicht ernsthaft meine Zuckertüte vergessen haben? Mein heiliger Gral, mein Objekt jahrelanger Begierde? Ich war fassungslos. Und Tränen schossen mir in die Augen. „Schatz, was ist denn los? Nun wein doch nicht, du musst vor der Schule doch keine Angst haben!“, meine Mutter wischte mir die Tränen weg, ging mit mir ins Zimmer und half mir beim Anziehen. Noch immer ließ sie sich nichts anmerken und ging auf das Thema vermisste Schultüte nicht weiter ein. Wäre ich Mutter gewesen und mein Sohn hätte so bitterlich geweint wie ich, ich hätte es nicht weiter ausgehalten, und ihm seine Schultüte gegeben. Aber meine Mutter zog das
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