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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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sollte. Aber sie wollte nicht. Kleine Kinder hassen Handschuhe. Und anstatt sie in Ruhe und sie die Erfahrung machen zu lassen, dass kalte Hände irgendwann weh tun, bestand mein Großvater darauf, dass sie die Wolldinger anzuziehen hat. Dabei ging es ihm nicht wirklich um das Wohl seiner Enkelin. Ihm ging es vor allem darum, dass seine Ansage durchgesetzt wird. Er konnte ein Nein zu seinem Vorschlag nicht akzeptieren. Und schon gar nicht von einer renitenten Vierjährigen, die er eh nicht leiden konnte. Und so schimpfte er wie ein wild gewordener Ochse mit ihr, zog die Handschuhe über ihre Hand, hielt sie dabei grob fest. Sie ließ sich das nicht gefallen, zerrte die Handschuhe wieder ab. Was ihn noch wütender machte. Meine Schwester schrie wie am Spieß, schmiss sich auf den Boden. Sie hatte den vorauseilenden Gehorsam Opa gegenüber, den alle anderen, besonders weiblichen Familienmitglieder beherrschten, noch nicht gelernt. Je mehr sie protestierte, desto mehr geriet mein Opa in Rage.
    Er zerrte sie grob hinter sich her, und es muss schmerzhaft für meine kleine Schwester gewesen sein. Er rieb ihre roten Händchen mit Schnee ab, um zu demonstrieren, wie kalt der Schnee ist und wie kalt ihre Hände werden, wenn sie keine Handschuhe anzieht. Es war absurd, und mein Opa wurde immer gemeiner zu ihr. Er ließ sie stehen, und stapfte wütend weiter. Als ich zu meiner Schwester eilen wollte, schließlich lässt man eine Vierjährige nicht einfach so in verschneiten Dünen stehen, blaffte er mich an und schubste mich zurück. „Lass die stehen! Die soll sehen, was sie davon hat!“ Seine Augen waren regelrecht hasserfüllt. Und ich, ich gehorchte. Natürlich. Mein Opa hatte soviel Macht über mich, ich hatte nicht den Mut, mich dem zu widersetzen. Er hätte mich für den Rest des Urlaubs bestraft. Und auch meine Oma unternahm nichts. Sie schwieg. Sie war schon ihr Leben lang der Vasall von meinem Opa. Und so brach es mir fast das Herz, meine Schwester so verzweifelt schreien zu hören, und nichts dagegen unternehmen zu können. Ich war auch wütend auf sie, denn sie hätte sich das Theater echt sparen können, hätte sie auf Opa gehört und die dämlichen Handschuhe einfach angezogen. Diese Strategie befolgte eine ganze Frauengeneration schon seit Jahrzehnten: Egal, wie absurd die Dinge waren, die mein Großvater von sich gab, meine Mutter, meine Großmutter und nun auch ich, sagten zu allem Ja und Amen. Um genau solche Ausraster zu vermeiden – und um des lieben Friedens Willen. Aber so war meine Schwester nicht. Mit ihren vier Jahren brach sie aus dem Muster des folgsamen und angepassten Weibs aus. Und stellte damit die Macht meines Großvaters in Frage. Was der natürlich nicht ertragen konnte. 
    So stiefelten meine Oma und ich schweigend vorne weg, und ich betete, dass meine kleine Schwester endlich aufhören würde zu schreien. Ich weiß nicht mehr wie wir es geschafft haben, aber irgendwann waren wir an unserer Ferienwohnung angekommen. Meine Schwester wimmerte kläglich. Und ich nahm sie sofort mit in unser Zimmer und kuschelte sie heimlich. Ich flüsterte ihr ins Ohr „Der doofe Opa!“, putzte ihr die Nase und spielte mit ihr. Insgeheim war ich stolz auf sie. Endlich jemand, der meinem Opa Paroli bietet und sich nicht von ihm unterdrücken lässt. Sie beruhigte sich schnell, und schien den Vorfall schnell vergessen zu haben. Nicht so mein Opa. Er war die nächsten drei Tage schlecht gelaunt, aber von der allerfeinsten Sorte. An meiner Schwester perlte das ab, ich aber nahm mir das wie immer sehr zu Herzen. Zudem hatte ich ein riesiges schlechtes Gewissen meiner Schwester gegenüber. Ich hätte sie niemals allein lassen dürfen. Ich hätte mich meinem Opa widersetzen müssen. Ich hätte sie beschützen müssen. Aber ich war in dem Moment zu feige. Ich wollte in dem Moment die Gunst meines Großvaters nicht verwirken. Zu groß war die Angst, danach tage- oder gar wochenlang von ihm abgelehnt zu werden.
    Unseren Eltern habe ich erst Jahre später davon erzählt. Aber sich beschwert bei meinen Großeltern haben sie nicht. Sie hatten nicht den Mumm dazu.
    Bitte verzeih mir, kleine Schwester.

Schultütenterror
    Der Gedisste
    Stephan,38, Schreiner
     
    Als kleines Kind wollte ich immer zur Schule gehen. Ich beneidete die großen Schulkinder, wie sie morgens mit ihren schönen Schulranzen unterwegs waren. Ich wollte auch einen Ranzen haben. Statt dessen baumelte an mir eine ausgebeulte und schmuddelige
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