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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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Kindergartentasche, für die ich mich immer mehr schämte. Ich wollte kein Kindergartenkind mehr sein, und schon gar nicht wollte ich, dass man das erkennen konnte.
    Auf der Straße tat ich so, als würde ich schon lesen können. Bei jedem Plakat und an jedem Ladenschild blieb ich stehen und starrte lange drauf. Ich bewegte dabei meinen Kopf langsam von links nach rechts. Alle sollten sehen, dass ich schon lesen konnte. Dabei sah ich nichts weiter als irgendwelche Zeichen vor mir, die sich einfach nicht zu Wörtern zusammenfügen lassen wollten. Die Magie des Lesens war mir noch gänzlich verwehrt. Zuhause nahm ich die Zeitungen meiner Eltern und blätterte geschäftig darin herum. Auch hier tat ich so, als würde ich lesen. Und kam mir dabei wahnsinnig klug und erwachsen vor. Lesen zu können, muss ein tolles Gefühl sein. Ich malte mir immer aus, wie sich das anfühlen würde. Irgendwie magisch vielleicht. Als würde man Buchstaben essen und schmecken können. Als würde ein glitzersprühender Zauberstab die Buchstaben miteinander verschmelzen. Als ich dann Lesen lernte, und kapierte, dass die Buchstaben nur für einen bestimmten Laut stehen und man sie einfach nur aneinander reihen musste, um ein Wort zu bilden, war ich regelrecht enttäuscht. Als ich mein erstes Buch laut vorlas, tat ich das recht holprig. Ich verstand, was in dem Buch geschrieben war. Aber kein magisches Verschmelzen, kein Glitzerstaub, kein Schmecken, kein Fühlen. Es fühlte sich staubtrocken und nüchtern an. Und ich war echt enttäuscht. Das war es also? 
    Bevor ich in die Schule kam, wollte ich auch immer mit einem Füllfederhalter schreiben, und dabei ganz wichtig und ernst dreinschauen. Ich übte das immer wieder mit meinen Buntstiften, aber so richtig kam das Schulkindgefühl nicht auf. Ich bettelte meine Mama an, mir doch endlich den Federhalter zu geben, den sie bereits für mich gekauft hatte. Aber sie blieb streng: „Erst, wenn du eingeschult bist.“ Manchmal, wenn Mama nicht da war, schob ich einen Stuhl vor den großen Wohnzimmerschrank, kletterte drauf, und öffnete die Tür ganz oben. Ich wusste, dass Mama dort alle Geschenke und sonstiges nicht für meine Hände bestimmtes versteckte. Dort fand ich auch meinen Federhalter. Ich nahm ihn mir heimlich raus und setzte mich damit an den Schreibtisch vor dem großen Wohnzimmerfenster. Ich packte ihn aus dem grauen Verpackungspapier aus, und öffnete sein Pappschachtelbett. Er war orange und geriffelt. Die Miene war silbern, und noch ganz blitzeblank. Wie gern hätte ich eine von den kleinen blauen Tintenpatronen eingesetzt, und losgeschrieben, also das, was ich damals für Schreiben hielt, aber das traute ich mich dann doch nicht. Man würde die Spuren sehen. Stattdessen kritzelte ich mit der trockenen Spitze über meinen Malblock. Der Federhalter kratzte über das Papier. Ich hielt die Luft an, denn die Spitze kam mir so empfindlich vor, ich hatte große Angst, sie zu verbiegen oder abzubrechen. Ich konnte mich nur schwer von meinem Federhalter trennen, ich liebte es, ihn in meinen kleinen Händen zu halten. Dennoch verpackte ich ihn so gut es ging und verstaute ihn wieder in seinem Versteck. Bis ich ihn endlich offiziell in den Händen halten durfte, waren mein Federhalter und ich schon ein eingespieltes Team.
    Ich freute mich auch sehr auf das Mäppchen. Dieser Kasten, in dem man Stifte, Radiergummi (wir nannten ihn damals "Ratzefummel"), Lineal, Dreieck und Zirkel, Tintenpatronen, Tintenkiller und Federhalter fein säuberlich aufbewahrte, faszinierte mich schon immer. Ich würde es hegen und pflegen, da war ich mir sicher. Es würde immer ordentlich aussehen, akkurat und piccobello, die Stifte nach Farben sortiert, immer angespitzt. Nichts sollte darin rumfliegen, kein Krümelchen Dreck sollte seinen Weg in mein Mäppchen finden. Dass das im Schulalltag nur Illusion ist, lernte ich schnell. Dennoch war ich stets stolz auf mein Mäppchen, die Festung meiner Schulausrüstung.
    Maßlos enttäuscht war ich über die Wahl des Ranzens. Ich wollte auch so einen schicken, bunten Plastik-Ranzen haben, mit bunten Bildern drauf. Als Kind gilt ja die Devise: Je mehr bunt und je mehr Plastik, desto besser. Kinder haben ein eigentümliches Ästhetik-Empfinden. Hoffnungsvoll betrat ich zusammen mit meiner Mutter den Taschenladen. Ich schielte auf die bunten Ranzen, meine Objekte meiner Begierde. Aber meine Mutter würdigte sie keines Blickes. Sie suchte stattdessen einen hellbraunen
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