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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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denn soweit kommen?“ oder ein „Toll, dass du mir das gesagt hast, wir gehen das jetzt gemeinsam an und ich unterstütze dich voll und ganz! Wir schaffen das!“ gehört. Statt dessen setzte sie noch mit einem äußerst ermutigenden „Und wenn du dich nicht sofort darum kümmerst und das angehst, lasse ich dich zwangseinweisen.“ nach. Wow. So viel mütterliche Fürsorge. Sie selbst rühmte sich hinterher damit, diese harte Tour ganz bewusst gewählt zu haben, denn nur so würde man etwas bei mir erreichen. Wie gut sie mich doch kennt. Ein paar nette und liebe und unterstützende Worte meiner Mama hätten mir in dem Moment wahrlich viel mehr geholfen. Statt dessen hatte ich, wie jeder in unserer Familie, zu funktionieren. Kein Platz für Schwächen. Und schon gar nicht für psychische Probleme.
    Ich frage mich bis heute, ob sie sich je die Frage gestellt hatte, wie es soweit kommen konnte. Denn ich gebe ihr und auch dem Rest meiner Familie, meinem Vater, meinen beiden Schwestern, zu großem Teil die Schuld daran. Ja, es ist immer einfach, jemanden anderen für seine eigene Misere verantwortlich zu machen. Aber bei uns liegt es auf der Hand. Natürlich hat sich heute das Schönheitsideal auch noch mal deutlich verändert, ich habe schon den Eindruck, dass wir heute unter einem viel größeren Druck stehen, dünn und schön sein zu müssen, als früher. Und „dünn“ ist heute nicht mehr schlank, sondern meistens richtig dürr. Anerkennung in der Mädchenclique bekommt die, die am dünnsten ist. Wobei das offen nie einer zugeben würde.
    In meiner Familie galt ich lange Zeit als moppelig. Schaue ich mir Bilder von früher an, auf denen ich als kleines Mädchen zu sehen bin, finde ich nicht, dass ich besonders dick aussehe. Ich war keine Bohnenstange, aber dick war ich bei weitem nicht. Trotzdem ist nach wie vor von meiner „pubertären Gewichtsexplosion“ die Rede, als wäre ich eine fette Schwabbelqualle gewesen. Meine Mutter rühmt sich bis heute dafür, dass sie sich stets so liebevoll um meine „Gewichtsprobleme“ gekümmert habe. Sie hat mir das Naschen verboten und mich zum Sport getrietzt. Sie hat mir immer wieder vorgehalten, dass ich dringend abnehmen müsse, weil ich es sonst echt schwer haben würde im Leben. Über Freundinnen, die noch dicker waren als ich, lästerte sie. „Also die Lea hat ja unsäglich zugenommen, du meine Güte! Dabei war sie doch mal so eine Hübsche!“. Als Motivation bekam ich meine großen Schwestern serviert. Beide groß, extrem rank und schlank. Sie waren die Disziplinierten, Schönen und die Klugen, mit den Bestnoten in der Schule. Ich der faule Moppel mit Durchschnitts-Noten. Wann immer es was bei uns zu Naschen gab, gab es den Running Gag „Das ist jetzt aber was für den Babyspeck!“. Der Gag belustigte alle immer wieder aufs Neue, nur mich nicht. Denn dabei zeigte man auf mich, denn offensichtlich war mein Babyspeck ziemlich hartnäckig. Das Thema „Lena ist zu dick“ war immer irgendwie Dauerthema bei uns. Dabei war der Rest der Familie keine besonders sportliche. Meine Schwestern gingen ins Fitnessstudio und ja, sie hatten einen tollen Body. Und meine Eltern joggten einmal die Woche übers Feld. Zusätzlich probierte sich meine Mutter gerne mit leckeren Brigitte-Rezepten aus, so dass regelmäßig riesige Gemüse-Pfannen auf den Tisch kamen. Und so bildeten sich meine Eltern, allen voran meine Mutter, ein, wir würden einen total gesunden und aktiven Lifestyle haben. Und meine Mutter sagte auch immer, sie würde mal ein Buch schreiben, darüber, wie man Kinder zu gesundem Essen und zu einem gesunden und aktiven Leben bewegen kann. Bis heute hat sie das Buch nicht geschrieben. Wäre ja auch peinlich, wenn raus käme, dass sie eine Tochter mit einer Essstörung hat.
    So behaupte ich heute, dass meine Essstörung sicher ihre Wurzeln in meiner Kindheit hat. Ich war nie gut so, wie ich war. Immer wurde optimiert an mir.
    Ich habe meine Therapie gemacht, um die ich mich selbst gekümmert habe. Noch heute gehe ich ab und zu zu meiner Psychologin. Ich habe wieder zugenommen, und bin nicht mehr so dürr. Dennoch bleibt die Unsicherheit, ob ich gut und schön bin, so wie ich bin. Weder meine Mutter, noch meine Schwestern, denen ich auch von meinen Problemen erzählt habe, haben sich sonderlich engagiert und gekümmert. Meinem Vater habe ich bis heute nichts davon erzählt. Ab und zu fragten sie mal nach, wie es denn laufe mit der Therapie, aber nach drei Minuten war
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