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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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einfach nur kein Thema. Es gibt ja in vielen Familien diese Geheimnisse, etwas Schreckliches ist passiert, und dann darf nicht mehr darüber gesprochen werden. Und wird das Thema angesprochen, zucken alle ängstlich zusammen. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, war das bei uns nicht so. Es war nur absolut irrelevant. Meine Mutter war mir eine gute Mutter, würde man im Märchen sagen. Sie machte ihre Sache so gut, dass ich nie das Gefühl hatte, dass da jemand fehlt.
    Ich bin der Meinung, ich habe mich stabil entwickelt, bin eine gefestigte Persönlichkeit geworden, habe eine eigene kleine Familie gegründet und alles ist gut so, wie es ist. Keinerlei emotionale Dramen. Alles im Lot. Und genau das beunruhigt mich manchmal. Ist das normal? Gerade weil immer alle nachfragen, was mit meinem Vater ist, und gerade weil das Thema immer in Filmen und TV-Sendungen hochgepusht wird, frage ich mich, warum ich so cool bin, und warum es mich so wenig interessiert. Denn ja, eigentlich müsste ich es doch wissen wollen, oder? Werde ich es später irgendwann mal bereuen, meinen Vater nie kennen gelernt zu haben? Und dann ist es vielleicht zu spät? Sogar meine Frau hat mich kurz vor unserer Hochzeit gefragt, ob ich nicht vielleicht doch mal versuchen wolle, den Kontakt zu ihm herzustellen. Schließlich heiraten wir, und wir werden vielleicht irgendwann mal Kinder bekommen, und da wäre es doch schon gut zu wissen, woher man so kommt. Und ob es vielleicht irgendwelche Krankheiten in der Familie gibt. Sie sagte zu mir „Du trägst Erbgut in dir, von dem du nicht weißt, woher es kommt. Das musst du doch wissen wollen!“ Ich war völlig empört, als würde sie eine Erbgut-Kontrolle mit mir machen wollen. Ich habe ihren Vorschlag vehement abgelehnt. Geheiratet haben wir trotzdem. Und eine kerngesunde kleine Tochter.
    Doch warum weiß ich so wenig von meinem Vater? Wie kam es dazu? Ich glaube, das hat sich so eingeschlichen, so entwickelt. Aus den wenigen Erzählungen meiner Mutter und meiner Großeltern weiß ich, dass meine Eltern schon als Teenager ein Paar waren, und meine Mutter mit 19 ungeplant schwanger wurde. Mit mir. Mein Vater war wohl etwas älter als meine Mutter, einerseits ein kluger Kopf, schien aber etliche psychische Probleme gehabt zu haben. Auch das Stichwort „Alkohol“ hörte ich immer wieder. Dennoch heirateten sie kurz vor meiner Geburt. Er muss meiner Mutter aber mit dem neu geborenen Baby eher eine Belastung gewesen sein. Es war die Rede von etlichen Ausrastern und Eskapaden. Und so zog meine Mutter irgendwann den Schlussstrich, reichte nach nur einem Jahr die Scheidung ein, und untersagte ihm jeglichen Kontakt zu ihr und seinem Sohn. Und daran hielt er sich wohl. Ich kann mich jedenfalls nicht an ihn erinnern. Und so lebte ich sechs Jahre allein mit meiner Mutter. Hier und da ein paar Männergeschichten, bis sie dann irgendwann ihren zweiten Mann kennenlernte und heiratete.
    Bislang habe ich diese Version der Hintergrundstory zu meinem Vater meiner Mutter immer abgenommen. Und respektiert. Ich habe sie nie hinterfragt. Er hat sich Scheiße verhalten, und sie hat ihn aus ihrem, aus unserem Leben gestrichen. Das konnte ich immer nachvollziehen. Aber heute kommen mir manchmal Zweifel. Sie hat das getan, weil es das Beste war, für sie und für mich. Aber sie hat auch darüber entschieden, dass ihr Kind ohne Vater aufwächst und keinen Kontakt ermöglicht. War das richtig so? War das wirklich das Beste für mich?
    Was mich auch nicht loslässt, wenn ich darüber nachdenke, ist: Warum habe ich all die Jahre nie etwas von meinem Vater gehört? Schließlich musste er Unterhalt zahlen, was er nur zu einem Bruchteil tat, und meine Mutter ihn deshalb jahrelang verklagte. Sie hatten also über Anwälte Kontakt. Daher weiß ich auch seinen Namen. Ich habe in den dicken Aktenordnern im Schlafzimmer meiner Mutter heimlich nach Informationen gesucht. Und dort las ich dann auch, dass er noch weitere Kinder hat, ich also Halbgeschwister habe. Die ich nicht kenne. Sprich, mein Vater und meine Mutter hatten jahrelang Kontakt. Er wusste, wo wir wohnten. Und doch hat er sich nie gemeldet. Und nie habe ich einen Brief von ihm bekommen. Weder zum Geburtstag, noch zu Weihnachten. Oder vielleicht kam ja was, aber meine Mutter wollte das nicht, und hat sie abgefangen? Wenn man in Familiengeheimnissen rumkramt, reimt man sich schnell Dinge im Kopf zusammen, die sich nicht gut anfühlen. Könnte ich meine Mutter mit solchen
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