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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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Blumenbeten Unkraut jätete. Opas spärlich behaarte Glocken wackelten rhythmisch im Wind, wenn er den Rasen mähte oder mit dem Gartenschlauch die Beete bewässerte. Und auch meine Mutter und ich mussten uns dem strengen Nackt-Diktat beugen und alle Klamotten im Haus lassen. Fotos aus dieser Zeit belegen, dass ich stets ziemlich schlecht gelaunt war, wenn der fröhlichen Freikörperkultur gefrönt wurde. Mir war das alles so unendlich peinlich. Ich wollte weder meine Oma, noch meinen Opa noch meine Mutter den ganzen Tag nackt sehen, noch wollte ich selbst nackig sein. Ich hasste dieses familiäre Nacktsein wie die Pest und konnte nicht verstehen, was daran so toll sein sollte. Opa und Oma plädierten ständig, wie gesund das sei. Und ich fragte mich, was das für einen Unterschied machen würde, wenn man zumindest eine Badehose oder einen Bikini trug. Ich fand, gar keinen. Doch mein Opa war der felsenfesten Überzeugung, dass es ein enormer Unterschied sei. Denn wenn man Klamotten trüge, auch wenn es nur eine Badehose wäre, würde das den Blutfluss und den Stoffwechsel und die Durchblutung, ach, und alles überhaupt, negativ beeinflussen. Ich habe ihm nie geglaubt. Aber als kleiner Knirps hatte ich keinerlei Lobby. Ich war zum FKK verdammt.
    Auch im Kindergarten verfolgte mich der Nackt-Wahn. Ab und zu kamen die Erzieherinnen auf die bescheuerte Idee, uns Kids bei schönem Wetter nackt draußen spielen zu lassen. Auch hier immer wieder die selbe Begründung: Es sei so gesund. Sehr genau erinnere ich mich daran, als meine Gruppe zum Sportmachen nach draußen geschickt wurde. Ich fand Sport immer toll. Wir rannten alle herum, machten Hampelmänner. Bis dahin alles im grünen Bereich. Bis die Erzieherin sagte „So, Kinder, es ist so tolles Wetter, jetzt ziehen wir unsere Sachen aus und rennen noch mal nackig und frei um den Platz!“ Oh Gott, nicht wirklich, oder? Ich wollte im Boden versinken. Und ich schien die einzige zu sein, die damit ein Problem hatte. Alle anderen Kinder entledigten sich sofort ihrer „Nickis“ (so hießen T-Shirts früher in der DDR) und ihrer Höschen und rannten nackig los. Nur ich nicht. Ich rannte ins Haus, fummelte an meinen Sandalen herum und tat so, als würde ich diese nicht aufbekommen. Ich riskierte lieber einen Anschiss, als nackig vor allen anderen Kindern, selbst wenn diese auch nackig waren, rumzurennen. Ich zögerte das so lange heraus, bis das Sportprogramm zu Ende war und sich alle Kinder wieder anzogen hatten und reinkamen. Dass ich mich gedrückt hatte, hat niemand bemerkt. Und ich war heilfroh.
    Ich bin froh, jetzt erwachsen zu sein. Und selbst über Hose an oder Hose aus entscheiden zu dürfen. Und um FKK-Strände mache ich bis heute einen großen Bogen. 

Vater: Unbekannt
    Der Ohne-Vater-Glückliche
    Christoph, 35, Wirtschaftsingenieur
     
    Ich bin 35 Jahre alt, und ein zufriedener und glücklicher Mensch. Obwohl ich ohne Vater aufgewachsen bin. „Obwohl“ deshalb, weil ich immer wieder fragende Blicke ernte, wenn dieses Thema zur Sprache kommt. Irgendwie erwartet man von allen, die nur mit einem Elternteil aufwachsen, dass sie eine Macke haben, dass sie psychisch gestört sind. Dass ihnen etwas fehlt. Dass sie sich nicht vollständig fühlen. Und dass sie furchtbar darunter leiden müssten. Im Fernsehen werden Familien, die sich jahrelang nicht, oder gar noch nie gesehen haben, tränenreich zusammengeführt. Immer wieder stellt man mir die Frage „Aber du musst doch wissen wollen und neugierig darauf sein, wer dein Vater ist!“. Und dann horche ich in mich rein, obwohl ich die Antwort schon kenne. Denn die ist schlicht „Ähm. Nö.“. Und das hat nichts mit Trotz zu tun oder verletztem Stolz. Es ist einfach normal für mich, dass da nie ein Vater war und ist. Und ich fühlte mich deswegen nie komisch oder unvollständig. Um nicht zu sagen, ich fühlte rein gar nichts. Es war ein sachlicher Fakt, dass ich meinen Vater nicht kannte. Mehr nicht. Keinerlei emotionale Regung bei mir.
    Ich dachte so gut wie nie über meine Vergangenheit oder die Vergangenheit meiner Mutter nach, ich dachte nie an meinen Vater. Ich weiß zwar, wie mein Vater heißt und habe auch das eine oder andere Bild von ihm gesehen, aber mehr auch nicht. Mein Vater und meine Mutter trennten sich, als ich ca. zwei Jahre alt war. Warum, wieso, weshalb, das weiß ich alles gar nicht so genau. Ich habe nie so wirklich mit meiner Mutter darüber gesprochen. Es war auch kein großes Tabu. Es war
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