Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
hielt den Schürhaken in der Hand. Seine Spitze glühte rot im Dunklen. Jetzt kam er mit katzenhafter Anmut langsam auf Carlo zu, den Schürhaken noch immer in der Hand.
    »Aber du hast eine Sache vergessen, Vater«, sagte er, und seine Stimme war ruhig und kalt, so als würde er sich höflich mit einem Freund unterhalten. »Du hast mir von der Ehefrau erzählt, die dich enttäuschte, von dem Staat, der dich finanziell aussaugt, den Pflichten deines Amtes, die auf dir lasten, von den Amtskollegen, die dich schikanieren, von meiner Cousine, die nicht aufhört, dich anzuklagen. Du hast mir von so vielen Dingen erzählt, die dich quälen und dir das Leben zur Hölle machen. Du hast mir jedoch nichts von deinen Söhnen er-zählt!«
    »Meine Söhne ...« Carlos Augen wurden schmal.
    »Deine Söhne«, wiederholte Tonio, »die kleinen Treschis, meine Brüder. Was tun sie dir an, Vater? Diese Kleinkinder, womit quälen sie dich, welches Unrecht fügen sie dir zu? Halten sie dich nachts nicht mit ihrem Geschrei wach, rauben sie dir nicht deinen wohlverdienten Schlaf?«
    Carlo gab ein undefinierbares Geräusch von sich.
    »Komm schon, Vater«, stieß Tonio leise zwischen den Zähnen hervor. »Auch wenn alles andere nur Verpflichtung und Plak-kerei ist, dann sind sie es doch sicher wert, Vater, daß du vor vier Jahren meinen Lebensweg abgebrochen hast!«
    Carlo starrte vor sich hin. Dann schüttelte er unsicher den Kopf. Er richtete sich auf, zog dabei die Schultern hoch und scharrte mit den Füßen leise auf dem Boden.
    »Meine Söhne ...«, sagte er. »Meine Söhne... meine Söhne werden dich ausfindig machen und für das, was du hier tust, umbringen!« rief er.
    »Nein, Vater«, sagte Tonio. Er drehte sich um und warf mit einer ungezwungenen Geste den Schürhaken ins Feuer.
    »Wenn du hier in diesem Haus stirbst«, flüsterte er, »dann werden deine Söhne niemals davon erfahren.«
    »Das ist eine abscheuliche Lüge, sie werden mit dem Wunsch aufwachsen, dich zu töten, sie werden nur für den Tag leben, an dem -«
    »Nein, Vater, sie werden bei den Lisanis aufwachsen, und von uns beiden und unserer alten Fehde werden sie nur wenig erfahren.«
    »Lügen, Lügen, meine Männer werden nicht ruhen...«
    »Deine Männer werden wie die Ratten aus der Stadt fliehen, wenn sie merken, daß es ihnen nicht gelungen ist, dich zu beschützen.«
    »Die Inquisitoren des Staates werden dich verfolgen und -«
    »Wenn sie wüßten, daß ich hier bin, dann hätten sie mich bereits gefangengenommen«, erwiderte Tonio sanft. »Außerdem hast du die Piazzavor aller Augen in Begleitung einer einzelnen Hure verlassen.«
    Unfähig, etwas zu sagen, starrte Carlo wütend zu Tonio empor.
    »Wenn du hier sterben solltest, Vater« - Tonio seufzte - »dann wird niemand erfahren, was dir passiert ist.«
    Er drehte sich um, durchquerte das Zimmer mit einigen gro-
    ßen Schritten und öffnete einen dunkel lackierten Schrank.
    Carlo saß wie versteinert da und beobachtete Tonio, als dieser mit jenen anmutigen Bewegungen, die so typisch für ihn waren, einen schäbigen Rock und einen Degen herausnahm. Er zog den Rock an, schnallte sich dann den Degen um und hängte sich schließlich noch einen Kapuzenumhang über die Schultern, den er am Hals schloß, so daß der schwarze Woll-stoff ringsum in tiefen Falten bis zum Boden fiel. Dann zog er die Kapuze hoch, so daß sein Gesicht jetzt weiß unter dem dunklen Dreieck aus Tuch hervorschimmerte.
    Carlo bäumte sich auf. Er riß mit vor Anstrengung zusammengebissenen Zähnen an seiner Fessel und versuchte den Stuhl nach hinten umzukippen. Vergebens. Der Stuhl rührt sich nicht einmal.
    Die Gestalt kam auf ihn zu, der schwarze Umhang schwang beim Gehen in demselben gespenstischen Rhythmus, wie es die schwarzen Röcke auf der Piazzagetan hatten. Tonio betrachtete das kalt gewordene Essen auf dem Tisch und zog dann das Messer mit dem langen Elfenbeingriff aus dem Ge-flügel.
    Carlo waren Tränen der Wut in die Augen gestiegen, aber er zuckte mit keiner Wimper. Es war noch nicht vorbei. Es war noch nicht zu Ende, denn wenn er diesen Gedanken auch nur einen einzigen Moment lang zuließ, dann würde er wie von Sinnen zu schreien anfangen. Es konnte einfach nicht so weit gekommen sein, es konnte nicht mit derselben Ungerechtigkeit enden, derselben Ungerechtigkeit, die sein ganzes Leben bestimmt hatte. Er empfand nichts als Haß auf Tonio und das schreckliche Bedauern, daß er ihn nicht schon vor langer Zeit umgebracht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher