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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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denn nach all diesen Jahren in Konstantinopel, während sie im Hause meines Vaters lebte, wieder mit ihr abgegeben!

    Aber ich liebte sie. Es war eine Leidenschaft, die fünfzehn Jahre überdauerte, nur um dann zerstört zu werden! Und wovon? Nicht von der Zeit, wohlgemerkt, auch nicht von meinem Vater, sondern von dir! ›Tonio‹, und dann starb sie. Sie wollte am Schluß nicht einmal mehr unsere Kinder sehen...«
    Seine Stimme brach. Er war erstaunt darüber, wie merkwürdig sie klang. Wenn er gekonnt hätte, dann hätte er seinen Kopf in die Hände gestützt.
    »Du fragst, ob ich ihr glaubte. Was gibt dir das Recht, mich überhaupt etwas zu fragen? Was gibt dir das Recht, über mich zu Gericht zu sitzen?«
    Er griff nach der Weinbrandflasche und goß sich den Rest des Inhalts rasch in den Becher. Er trank den Becher leer, spürte dabei die schärfere, stärkere Hitze des Alkohols. Köstlich. Das ganze Zimmer schien unter ihm zu schwanken, eine Art Krampf stieg in ihm auf, bis selbst seine Augen sich nach oben verdrehten. Eine quälende Erinnerung überfiel ihn. Er sah seine junge und wunderschöne Marianna, so wie sie war, als er sie damals aus dem Kloster geholt und in seine Unterkunft geführt hatte. Wie sie zu schreien begonnen hatte, als sie erkannte, daß er sie nicht heiraten würde!
    Er schauderte, erinnerte sich daran, daß er sie zu trösten versucht hatte, daß er ihr versichert hatte, er würde lediglich etwas Zeit brauchen, Zeit, um seinen Vater für sich zu gewinnen. »Ich bin sein einziger Sohn, verstehst du denn nicht, er muß sich mir fügen!«
    Er wollte sich nicht daran erinnern. Er stand kurz vor dem Deli-rium. Plötzlich wußte er wieder, wie es früher einmal gewesen war, als seine Mutter und seine Brüder noch gelebt hatten und die ganze Welt heiter, voller Hoffnung und voller Liebe gewesen war. Sie waren wie ein Prellbock zwischen ihm und seinem Vater gewesen. Es hatte nichts gegeben, was sich nicht wieder in Ordnung hätte bringen lassen. Aber das hatte man ihm auf grausame Weise genommen, so wie man ihm Marianna genommen, wie man ihm seine Jugend genommen hatte.
    Jetzt schien es ihm, als wäre alles, woran er sich wirklich erinnern konnte, Kampf und Bitterkeit, und das löschte alles andere aus.

    Er stöhnte. Er starrte zum Eßtisch. Verschwommen wurde ihm wieder bewußt, wo er sich befand und daß es Tonio war, der ihn hier festhielt. Er spürte, wie der Gurt in sein Fleisch schnitt, und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Da fiel ihm wieder ein, daß er jetzt vor allem Zeit brauchte.
    Die Kerzen waren weit heruntergebrannt, das Feuer im Kamin war zu einem Haufen glimmender Asche zusammengesunken.
    Als er an jenem Morgen damals betrunken zum Broglio gegangen war und geschworen hatte, daß er sie auch ohne Erlaubnis heiraten würde, hatte sein Vater ihn mir zorniger Miene angefahren: »Du wagst es, dich mir zu widersetzen?« Und Marianna hatte schluchzend auf dem Bett in jener schmutzigen Unterkunft gelegen: »O Gott im Himmel, was hast du mir angetan?«
    Er mußte wieder irgendein Geräusch, ein Stöhnen von sich gegeben haben.
    Erschrocken merkte er plötzlich, daß es im Zimmer dunkel geworden war. Mit einem Mal erschien ihm der Raum riesen-groß. Tonio starrte ihn immer noch ausdruckslos an. Lediglich um seinen Mund herum zeigte sich eine harte Linie.
    Sein schwarzes Haar fiel ihm nun weich auf die Schultern herab und umrahmte sein Gesicht jetzt auf natürlichere Weise.
    Wie sah er aus? Trotz der Operation war da immer noch die alte Ähnlichkeit, wie sie sich auch auf dem Dutzend Porträts zeigte, die vor vielen Jahren gemalt worden waren, als sie alle noch zusammen waren, seine Brüder und er, und seine Mutter. Aber dies hier war Tonio!
    Er spürte, wie wieder Übelkeit in ihm aufstieg.
    »Du ...« Er kochte vor Zorn, sein Körper zitterte. »Du hältst mich hier gefangen, du sitzt über mich zu Gericht! Bist du deshalb gekommen, weil du über mich richten willst! Du, der Verhätschelte« - er lächelte, dieses Lachen fing wieder an, dieses leise, staubtrockene Lachen, das seine Worte fortzureißen schien - »der von meinem Vater Erwählte, du, der Sänger, ja, der große, berühmte Sänger, dessen Kutsche die Frauen mit Blumen bewerfen, der von Angehörigen des Königshauses empfangen wird, Tonio, dessen Börse von Gold überfließt und dem der große Kardinal Calvino jeden Wunsch von den Augen abliest.«
    In Tonios Gesicht flackerte die Spur eines Gefühls auf.
    »Ja,
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