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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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traurig.
    »Ach, du hattest keine Wahl!« flüsterte Tonio beinahe bitter.
    »Und was wäre gewesen, wenn du nach Rom gekommen wärst? Was wäre gewesen, wenn wir zwei uns begegnet wä-
    ren und miteinander geredet hätten, so wie jetzt?«
    »Begegnet? Geredet?« wollte Carlo empört wissen. »Wozu?
    Um dich um Verzeihung anzuflehen, weil ich dich kastrieren ließ?« Er schnaubte höhnisch. »Nun, ich habe dich damals immer und immer wieder angefleht, dich mir zu unterwerfen, mein unehelicher Sohn! Du aber hast dich geweigert. Du hast dein Schicksal selbst bestimmt! Es war deine Entscheidung, nicht die meine!«
    »Oh, das glaubst du doch nicht wirklich!« flüsterte Tonio.
    »Ich hatte keine Wahl!« brüllte Carlo. Er lehnte sich nach vorn.
    »Ich sage dir noch einmal, ich hatte keine Wahl! Zum Teufel mit den Männern, die ich zu dir nach Rom geschickt habe.
    Wenn dich das dazu bewogen hat, hierherzukommen, um so besser, denn du wärst ohnehin gekommen, und das weißt du auch. Ich hatte keine Wahl!«
    Sein Blick trübte sich, aber ach, dieses Gesicht war so wunderschön. Doch es war das Gesicht eines Dämons, welche Ironie. Und voller Jugend. Seine Jugend, das war es, was er am allermeisten beklagt hatte.
    Sein Becher war wieder leer. Er spürte, wie ihm der Wein das Kinn hinunterrann. Er griff nach der Flasche.
    »Dir begegnet, mit dir geredet.« Er seufzte, seine Brust hob und senkte sich, die Augen hatte er halb geschlossen.
    Aber was sollte er tun, was sollte er sagen?
    Sein Blick wanderte über die Zimmerdecke, das große dämmrige Gewölbe, über das der Kerzenschein zuckte, wo Spinnen wohnten und der Regen in schimmernden Tröpfchen durch Haarrisse sickerte.
    Er brauchte unbedingt Zeit, Zeit, damit es dunkel werden konnte. Was er da eben gesagt hatte, was aus ihm herausge-brochen war, das war das Gift aus vielen alten Wunden gewesen.
    Als er jedoch spürte, wie sein Körper von der Wärme des Weins durchströmt wurde und sich eine tiefe, sanfte Erschöpfung in ihm ausbreitete, da war ihm das egal!
    Aber die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, die war ihm nicht egal, diese grausame und unbarmherzige Ungerechtigkeit, die sich über Jahre hinweg fortgesetzt hatte, die Lügen und Anschuldigungen, die niemals aufhörten. Für all das hatte er bezahlt, bezahlt, bezahlt! Alles, wonach er gestrebt hatte, war ihn so teuer zu stehen gekommen, daß es den Preis am Ende nicht wert gewesen war. Oh, an was hatte er sich je erfreuen können, das ihn nicht seine Jugend, sein Blut und seinen Frieden gekostet hatte? Wann hatte es da je Verständnis gegeben, irgendeinen Augenblick, wo er das Ganze vor irgendeinem Richter hätte niederlegen können?
    »Was weißt du denn schon davon?« wollte er wissen. »Von all diesen Jahren in Konstantinopel, als du verwöhnt und verhätschelt wurdest, während man mir Marianna fortgenommen hatte. Und dann kam ich nach Hause und mußte erleben, daß sie mich beschuldigt, mich beschuldigt! Sie hat mir nie geglaubt, weißt du! Immer hieß es Tonio, Tonio! Ich habe sie tausendmal angefleht, keinen Wein mehr zu trinken, ich habe Ärzte kommen lassen. Und was hat sie nicht alles von mir bekommen! Juwelen, Kleider aus Paris, Diener, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen, die sanftesten Ammen für die Jungen, sie hat alles von mir bekommen! Aber was wollte sie letztendlich haben: ›Tonio‹, und den Wein. Es war der Wein, der sie umgebracht hat, und auf ihrem Sterbebett hat sie nach dir verlangt!«
    Er musterte Tonio. Was für ein Ausdruck lag jetzt auf seinem Gesicht? Ungläubigkeit? Schmerz? Er konnte es nicht sagen.
    Es war ihm auch egal.
    »Das tröstet dich sicherlich«, sagte er bitter und lehnte sich wieder nach vorn. Sein Kopf war ihm jetzt zu schwer, aber der Wein in seinem Mund war kühl und frisch. »Und dann diese letzten Tage! Weißt du, was sie zu mir gesagt hat? Daß ich sie zugrunde gerichtet hätte, vernichtet hätte, sie in den Wahnsinn und die Trunksucht getrieben hätte und ihr ihren einzigen Trost, unseren Sohn, genommen hätte! Das hat sie zu mir gesagt!«
    »Und das hast du natürlich nicht geglaubt, nicht wahr?« flü-
    sterte Tonio.
    »Es geglaubt! Nach allem, was ich ihretwegen erduldet habe!«
    Carlo spürte, wie der Ledergürtel ihn schmerzhaft in die Brust schnitt, er lehnte sich wieder zurück und hielt dabei die Flasche fest in der Hand. »Nach allem, was ich für sie getan ha-be! Ich wurde in die Verbannung geschickt, weil ich sie liebte.
    Wer hätte sich
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