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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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hatte.
    »Weißt du«, flüsterte Tonio, »was ich immer tun wollte, wenn dieser Augenblick einmal gekommen wäre?« Er hielt Carlo das Messer vors Gesicht. Im verlöschenden Licht war zu sehen, daß die Klinge vor Geflügelfett glänzte.
    Carlo versank im Stuhl.
    »Ich habe mir immer vorgestellt, ich würde dir dein Augenlicht nehmen«, flüsterte Tonio und hob dabei langsam das Messer,
    »damit du, der du geliebt hast, wie ich niemals lieben werde, du, der Söhne gezeugt hast, was mir auf immer versagt ist, vom Leben ausgeschlossen bist, wie ich davon ausgeschlossen wurde, und dennoch lebst, so wie ich auch!«
    Die Tränen, die Carlo in den Augen gestanden hatten, rannen ihm jetzt übers Gesicht. Sein Mund arbeitete stumm, während er Tonio wütend anstarrte. Dann spuckte er Tonio den Speichel, den er gesammelt hatte, ins Gesicht.
    Tonios Augen weiteten sich.
    Mit einer Geste, die beinahe unfreiwillig wirkte, hob er den Rand des Umhangs und wischte den Speichel ab.
    »Sehr tapfer von dir, Vater, nicht wahr?« flüsterte er. »Du hast soviel Mut, Vater, nicht wahr? Vor Jahren hast du mir gesagt, daß ich Mut hätte, erinnerst du dich daran? Aber ist es Mut, Vater, was dich dazu veranlaßt, mir jetzt, da ich die Macht ha-be, über dein Leben zu entscheiden, die Stirn zu bieten? Ist es Mut, Vater, daß du dich weder deinen Söhnen zuliebe noch Venedig zuliebe, auch nicht dem Leben zuliebe unterwerfen willst?
    Oder ist es etwas weniger Edles als Mut, ist es nicht etwas weit Niedrigeres? Sind es nicht Stolz und Selbstsucht, die dich zum Sklaven deines ungezügelten Eigensinns gemacht haben, so daß jeder, der sich dir widersetzt, zwangsläufig dein Todfeind werden muß?«
    Tonio kam näher, seine Stimme klang jetzt erregt.
    »Waren es nicht Selbstsucht, Stolz und Eigensinn, die dich dazu getrieben haben, meine Mutter aus dem Kloster, das ihr Schutz bot, zu holen, sie zu ruinieren und in den Wahnsinn zu treiben? Dabei hätte sie ein Dutzend Freier haben können, ein dutzendmal hätte sie heiraten, zufrieden und glücklich sein können! Sie war der Liebling der Pietà, ihr Gesang war bereits weithin berühmt. Aber du mußtest sie besitzen, ob sie nun deine Ehefrau werden konnte oder nicht!
    Und war es keine Selbstsucht, kein Stolz, kein Eigensinn, was dich dazu getrieben hat, sich deinem Vater zu widersetzen, ihm zu drohen, eine Familie aussterben zu lassen, die auf eine tausendjährige Geschichte zurückblicken konnte!
    Und als du nach Hause gekommen bist und festgestellt hast, daß die Strafe für diese Verbrechen immer noch in Kraft war, hast du, getrieben von Stolz, Selbstsucht und Eigensinn, danach getrachtet, dir zu nehmen, was du nur durch Grausamkeit, Verrat und Lügen erlangen konntest! ›Unterwirf dich mir‹, hast du zu mir gesagt, und als ich mich dir nicht unterwerfen konnte, hast du mich kastrieren lassen, hast mich aus meiner Heimat vertreiben lassen und mich so von allem getrennt, was ich kannte und liebte. Und ich, ich ließ mich lieber aus Venedig verbannen, als dich anzuklagen, lebte lieber in Ungnade, als dich bestraft und meine Familie bedroht zu sehen. Und jetzt erzählst du mir, daß all das, wofür du mich verstümmelt und mir Unrecht getan hast, nichts als eine Plage und eine Last ist!
    Lieber Gott, du hast eine Familie fast zerstört, du hast eine Frau ruiniert und in den Wahnsinn getrieben, du hast deinen Sohn kastrieren lassen, und dann wagst du es, dich darüber zu beklagen, daß man dir Vorwürfe macht und dich verdächtigt und daß du zum Lügen gezwungen wirst!
    Wer in Gottes Namen bist du, daß dein Eigensinn, deine Selbstsucht und dein Stolz einen solchen Preis fordern dürfen!«
    »Ich verabscheue dich!« schrie Carlo. »Ich verfluche dich. Ich wünsche mir bei Gott, daß ich dich getötet hätte. Wenn ich könnte, dann würde ich dich jetzt umbringen.«
    »Oh, das glaube ich dir gern«, antwortete Tonio gereizt und mit bebender Stimme. »Und du würdest mir selbstverständlich erzählen, daß du natürlich wieder einmal keine andere Wahl hattest!«
    »Ja, ja und noch einmal ja!« brüllte Carlo.
    Tonio hielt inne. Die Gewalt seiner eigenen Worte hatte ihn erzittern lassen. Jetzt schien er stumm zu warten, bis sich der Zorn, der in ihm aufgestiegen war, wieder gelegt hatte. Der Blick, den er dabei auf Carlo geheftet hatte, war jedoch ausdruckslos, zeigte abermals nichts als Unschuld.
    »Und du würdest mir jetzt auch keine Wahl lassen, nicht wahr?« fragte Tonio. »Du hättest gerne,
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