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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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einiger Fackeln.
    Ihm schien, als wären sein Schmerz und die Kälte, die er spür-te, ein und dasselbe. Er konnte nicht mehr daran glauben, daß irgend etwas, was man tat, auch rechtschaffen sein konnte. Er bemühte sich, sich das Bild jener Menschen, die er liebte, ins Gedächtnis zu rufen, versuchte ihre Gegenwart zu spüren, denn es reichte nicht, sich nur ihre Namen vorzusagen, so als würde er ein Gebet sprechen. Er stellte sich vor, er würde sich zusammen mit dem Kardinal an irgendeinem ruhigen und sicheren Ort befinden, wo er ihm erklären konnte, was passiert war.
    Aber das waren Träume.
    Er war allein. Er hatte seinen Vater getötet.
    Von jetzt an würde er diese Last stets mit sich tragen. Er wür-de niemals erzählen, was geschehen war. Er würde niemals um Absolution oder Vergebung bitten.
    Als es schließlich zu dämmern begann, zog er sich die Kapuze seines Umhangs über den Kopf und ging hinaus auf die Piazza .
    Er betrachtete die monumentalen Gebäude, die für ihn einst die Grenzen der Welt dargestellt hatten, dann kehrte er Venedig für immer den Rücken.

    3

    Er war schon tagelang in Richtung Süden, nach Florenz unterwegs. Noch immer war Winter, leichter Frost lag auf den Feldern. Dennoch konnte er die Gesellschaft anderer Leute in den Postkutschen nicht ertragen. Er nahm sich deshalb bei jeder Station lieber ein Reitpferd. Da er jedoch nur langsam am Rande der Straße entlangritt, war er bei Einbruch der Nacht oft noch weit von der nächsten Unterkunft entfernt.
    Bologna erreichte er zu Fuß. Sein Umhang war schmutzver-krustet, seine Stiefel durchgelaufen. Wäre da nicht sein Degen gewesen, hätte man ihn für einen Bettler halten können.
    Er wurde in den Straßen herumgestoßen, der Lärm tat seinen Ohren weh. Er hatte so wenig gegessen, daß ihm schwindlig wurde. Seinen Sinnen konnte er schon längst nicht mehr trauen.
    Als er aus der Stadt heraus wieder aufs Land kam, war ihm klar, daß er nicht mehr weiterlaufen konnte. Er klopfte an der Pforte eines Klosters an und drückte dem Vater Superior die Hälfte des Geldes, das er noch besaß, in die Hand.
    Er war dankbar, als die Mönche ihm ein Bett gaben. Sie brachten ihm auch Brühe und Wein und nahmen seine Stiefel und seine Kleidung mit, um sie zu flicken. Durch das Fenster konnte er einen kleinen, in Sonnenlicht getauchten Garten sehen.
    Bevor er die Augen schloß, fragte er noch nach dem Datum und wie viele Tage es noch bis Ostern seien.
    Einer Sache war er sich nämlich sicher. Er mußte vor dem Ostersonntag bei Guido und Christina sein.

    Tage vergingen, wurden zu Wochen.
    Er lag auf seinem Kissen und sah in den Garten hinaus. Der Anblick erinnerte ihn an eine Zeit, als er glücklich gewesen war, als die Sonne auf mit Steinplatten belegte Gehwege geschienen hatte und ihre Strahlen sich im Wasser des kleinen Brunnens gespiegelt hatten. Das Kloster war voller zart getönter Schatten. Aber er konnte sich an nichts mehr genau erinnern. Sein Bewußtsein war leer.
    Er wünschte, es wäre nicht Fastenzeit, dann hätte er wenigstens die Mönche singen hören.
    Wenn es Nacht wurde und er allein in diesem Zimmer lag, überkam ihn ein schrecklicher Kummer. Er fürchtete, daß sich seine Fähigkeit, diesen Kummer zu empfinden, mit jedem Jahr seines Lebens nur noch vergrößern würde. Stets sah er dann seine Mutter in trunkenem Schlaf in ihrem Bett liegen, und es kam ihm so vor, als hätte sie irgendein tiefgründiges Geheimnis gekannt.
    Keinerlei Veränderung ging in ihm vor, so jedenfalls erschien es ihm. Doch mit jedem Tag nahm er etwas mehr Nahrung zu sich. Bald schon stand er früh am Morgen auf, um mit den Klosterbrüdern zur Messe zu gehen. Immer öfter dachte er an Guido und Christina.

    Waren sie sicher in Florenz angekommen? Machte sich Paolo Sorgen um ihn? Er hoffte, daß Marcello, der sizilianische Sänger, mitgekommen war. Ohne Signora Bianchi waren sie aber gewiß nicht aufgebrochen.
    Manchmal stellte er sich auch vor, wie sie zusammen speisten, miteinander redeten. Es ärgerte ihn, daß er nicht wußte, wo sie jetzt waren. Hatten sie in den Bergen eine Villa mit einer Terrasse bezogen, auf der sie am Abend sitzen konnten?
    Oder befanden sie sich im Herzen der Stadt, in irgendeiner geschäftigen Straße in der Nähe des Theaters und der Paläste der Medici?
    Eines Morgens schließlich zog er sich an, schlüpfte in seine Stiefel, schnallte seinen Degen um, nahm seinen Umhang über den Arm und ging, ohne lange zu überlegen, zum Vater
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