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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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daß ich dich jetzt, in diesem Augenblick, töte, obwohl sich in mir alles dagegen sträubt und ich dich selbst gegen deinen Willen retten möch-te.«
    In Carlos Gesicht, das in Zorn erstarrt war, vollzog sich eine winzige Veränderung.
    »Ich will dich nicht töten!« flüsterte Tonio. »Trotz all deines Hasses, deiner Rücksichtslosigkeit, deiner unendlichen Bosheit möchte ich dich nicht töten! Aber nicht aus Gnade dir gegenüber, diesem beklagenswerten Mann, der du bist, sondern aufgrund von etwas, das du niemals respektiert hast und das du niemals, niemals begriffen hast.«
    Er machte eine Pause, atmete tief durch. Sein Gesicht schien jetzt von innen heraus zu leuchten.

    »Daß du Andreas Sohn bist«, sagte er langsam, beinahe mü-
    de, »daß du von seinem Fleisch und Blut bist und daß ich von deinem Fleisch und Blut bin, daß du ein Treschi bist und Herr des Hauses meines Großvaters. Daß du meine kleinen Brü-
    der, die ich nicht zu Waisen machen möchte, in deiner Obhut hast, daß du trotz all deiner bitteren Klagen über die Regierung Venedigs dort unseren Namen vertrittst!
    All das ist für mich ein Grund, dich leben zu lassen, und mit dieser Absicht kam ich auch hierher. Ich will dich leben lassen, nicht zuletzt auch wegen der erbärmlichen Wahrheit, daß du mein Vater, mein Vater bist und ich nicht will, daß dein Blut an meinen Händen klebt!«
    Wieder machte Tonio eine Pause. Er hielt noch immer das Messer in der Hand, sein Blick wurde verschwommen. Es schien, als hätte ihn plötzlich eine tiefe Erschöpfung überfallen, ein tiefer Abscheu.
    Carlo registrierte dies scharfsinnig, obwohl sein Gesicht einen spöttischen Ausdruck zeigte und er sich nicht täuschen lassen wollte.
    »Und letztendlich vielleicht auch«, flüsterte Tonio, »weil ich mich von dir nicht dazu zwingen lassen will, es zu tun. Ich will nicht einst als Vatermörder vor Gott stehen und so wie du win-seln: ›Ich hatte keine andere Wahl.‹
    Aber kannst du das überhaupt begreifen? Kannst du eine Weisheit akzeptieren, die jenseits deines Eigensinns, deines Stolzes liegt? Gibt es einen anderen Weg, diesen Knoten aus Rache, Ungerechtigkeit und Blut zu lösen?«
    Carlo hatte seinen Kopf zur Seite geneigt und blickte Tonio mit einem halb zusammengekniffenen Auge an. Sein Haß auf Tonio pulsierte in ihm, so als wäre er sein Herzschlag.
    »Ich brauche dich nicht mehr zu hassen«, flüsterte Tonio. »Ich brauche dich nicht mehr zu fürchten. Es scheint, daß du für mich jetzt nichts anderes mehr bist als irgendein häßlicher Sturm, der meine schutzlose Barke vom Kurs abgetrieben hat.
    Was ich verloren habe, werde ich niemals wiedererlangen.
    Aber ich will mit dir keinen Streit mehr haben, dich nicht mehr hassen, keinen Groll mehr empfinden.
    Sag mir, Vater, kannst du, obwohl du mich um nichts gebeten hast, dennoch akzeptieren, daß ich von dir jetzt nichts anderes verlange als deinen Schwur? Den Schwur, daß du mir ab jetzt nicht mehr nach dem Leben trachten willst und daß ich fortan unbehelligt bleibe. Ich werde aus Venedig verschwinden, wie ich gekommen bin, und niemals danach trachten, dir oder denen, die du liebst, zu schaden. Wenn du mir das in diesem Augenblick vielleicht auch nicht glaubst, dann wirst du es glauben, wenn ich dich verlasse. Aber dafür, Vater, mußt du dich ein klein wenig beugen. Du mußt mir diesen Schwur leisten.
    Das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin. Das ist der Grund, weshalb ich dich nicht schon getötet habe. Ich möchte, daß zwischen uns aller Zwist beendet ist! Ich möchte, daß du wieder deiner Familie und meinen kleinen Brüdern gehörst. Ich möchte, daß du mir diesen Schwur leistest!«
    Carlo warf Tonio langsam einen finsteren Blick zu. Mit leiser, kehliger Stimme murmelte er: »Du willst mich reinlegen...«
    Ein heftiges Zucken durchlief Tonios Gesicht. Dann glättete es sich wieder, erweckte den Eindruck, zu nichts Bösem fähig zu sein. Er senkte den Blick.
    »Vater, um Gottes willen!« flüsterte er. »Um des Lebens willen.«
    Carlo musterte ihn. Nun konnte er wieder klar sehen, schmerzhaft klar, obwohl es im Zimmer jetzt dunkel war. Er empfand einen solch ungetrübten Haß auf die düstere Gestalt, die da vor ihm stand, daß er an kaum etwas anderes denken konnte.
    Er sah, wie sich das Messer in Tonios Hand bewegte. Tonio hatte es anmutig herumgedreht und hielt es jetzt so, daß Carlo es am Griff nehmen konnte.
    »Vater, dein Schwur. Dein Leben ist mein Leben, jetzt und für immer.
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