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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit
Autoren: Walter Mosley
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geworden bist, und ich möchte dich verstehen, dir nah sein.«
    »Ja. Sicher. Lass mich nur rasch diese Sache klären, und dann reden wir entweder, wenn ich zurückkomme, oder spätestens morgen. Okay?«
    Sie lächelte und drückte mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Sie musste sich ein wenig vorbeugen, weil ich fünf Zentimeter kleiner bin als sie.
     
    Ich zog den dunkelgelben Anzug und ein weißes Hemd an. Da ich für einen so bedeutenden Klienten unterwegs war, band ich mir sogar eine burgunderrote Krawatte um. Der Mann im Spiegel sah aus wie eine fette, kahle Made mit schwarzem Kopf, die den Nachmittag über in der Sonne getrocknet war.
    Ich bin kleiner als die meisten Männer, und wenn man mich nicht nackt sieht, könnte man mich für beleibt halten. Doch mein Körperumfang kommt von meiner Knochenstruktur und den Muskeln, die ich mir in fast vier Jahrzehnten in Gordo’s Box-Studio antrainiert habe.
     
    »Hey, Dad«, rief Twill, als ich unsere Wohnung im zehnten Stock gerade verließ.
    »Ja, Sohn?«, fragte ich seufzend.
    »Mardi Bitterman ist zurück in der Stadt. Sie und ihre Schwester.«
    Mardi war ein Jahr älter als Twill. Sie und ihre Schwester waren von ihrem Vater missbraucht worden, und ich hatte eingreifen müssen, da Twill es sich in den Kopf gesetzt hatte, den Mann zu ermorden.
    »Ich dachte, sie wären zur Familie ihrer Mutter in Irland gezogen.«
    »Offenbar waren sie gar nicht verwandt«, sagte Twill. »Ihr Vater hat Mardi von irgendeinem Perversen gekauft. Ihre Schwester auch. Ich kenne nicht die ganze Geschichte, aber sie mussten nach Hause zurückkommen.«
    »Okay. Und was willst du von mir?« Ich war ungeduldig, sogar mit Twill. Vielleicht piekste mich auch dieTatsache, dass er zu mir in der gleichen Beziehung stand wie Mardi zu ihrem Vater.
    »Mardi kümmert sich um ihre Schwester und braucht einen Job. Sie ist achtzehn und auf sich allein gestellt, weißt du.«
    »Und?«
    »Du sagst doch immer, wie gern du eine Empfangssekretärin hättest. Ich dachte, es wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt, eine anzustellen. Mardi ist echt gut organisiert und so. Sie würde den Laden schwer auf Vordermann bringen.«
    Twill war ein geborener Verbrecher, doch er hatte ein gutes Herz.
    »Ich schätze, wir könnten es probieren«, sagte ich.
    »Cool. Ich hab ihr gesagt, sie soll morgen früh in dein Büro kommen.«
    »Ohne vorher zu fragen?«
    »Klar, Pops. Ich wusste, dass du Ja sagen würdest.«

3
    An der Ecke 91 st Street und Broadway nahm ich ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse in der Nähe des Central Park. Er hieß mit Nachnamen Singh. Sein Gesicht konnte ich durch die verkratzte Trennwand aus Plastik nicht erkennen.
    Es ergab nicht viel Sinn, dass ich Katrina zurückgenommen hatte. Man hätte meinen sollen, nach zwanzig Jahren der Untreue auf beiden Seiten des Bettes wäre es genug gewesen. Ich hätte sie abweisen sollen, nachdem ihr Banker nach Argentinien geflohen war. Aber sie bat mich um Verzeihung. Und wie konnte ich Erlösung von all meinen Sünden erhoffen, wenn ich ihr nicht einmal vergleichsweise unbedeutende Verfehlungen vergeben konnte?
    Und jetzt wollte Katrina reden – über uns. Vielleicht war es vorbei – jetzt nachdem ich zu lange gewartet hatte.
    »Sind Sie sicher, dass Sie dorthin wollen?«, fragte Mr. Singh mich.
    Ich blickte auf und sah mindestens ein halbes Dutzend Polizeiwagen, deren rot flackernde Lichter den ganzen Block erleuchteten wie ein Mardi Gras in der Hölle.
    Bei jedem anderen Klienten hätte ich kehrtgemacht.
    Ein Streifenwagen an einem Tatort ließ auf einen häuslichen Konflikt schließen, drei auf einen schiefgelaufenen Einbruch; aber sechs und mehr Polizeiautosvor Ort konnten nur mehrfachen Mord bedeuten, bei dem der oder die Täter noch flüchtig waren.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich eine stattliche Menge von Schaulustigen versammelt, die gafften, mit den Fingern zeigten, sich fragten, was passiert war, und ihre Meinung über das mutmaßliche Geschehen zum Besten gaben.
    »Es sind zwei«, sagte ein älterer Mann. Er trug Pantoffeln, einen Schlafanzug und einen ramponierten grauen Parka gegen die Novemberkälte. »Marla Traceman sagt, es waren ein Schwarzer und eine weiße Frau.«
    Ich ging zum Hauseingang, wo ein großer Polizist mit einem Hängebauch wie ein Getreidesack jedem den Zutritt zu dem elfstöckigen Backsteingebäude verwehrte.
    »Gehen Sie weiter«, erklärte mir der braunäugige Weiße. Er war um die fünfzig, ein
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