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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei
Autoren: Martin Clauß
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und kippten sich ein Bier nach dem anderen hinter die Binde. Dabei trank Phil nicht aus einem Zwang heraus. Es gibt Menschen, die sind nicht alkoholsüchtig, putzen aber Abend für Abend mehr weg als mancher Suchtkranke, einfach, weil es zu ihrem Bild von einem gemütlichen Abend gehört.
    Kurz nachdem Wendy auf die Welt kam, verlor Phil seine Arbeit, und Lyanne, die eigentlich vorgehabt hatte, mindestens ein Jahr lang mit Haut und Haar für ihre Tochter dazusein, warf ihre Planungen über den Haufen und beschloss, wieder in ihren Job zurückzukehren. Es wäre einfach unsinnig gewesen, zu zweit zu Hause herumzusitzen und zuzusehen, wie ihr bescheidenes Bankkonto sich beständig rot färbte.
    Anfangs glaubte sie fest daran, dass Phil ein guter Vater sei. Er war sanft, verständnisvoll, und er liebte seine Tochter. Liebte sie mit diesem übernatürlichen Glänzen in den Augen, das man nicht spielen kann. Aber er ölte dieses Glänzen Abend für Abend mit Bier, lud dazu seine Saufkumpane ins Haus, und sie lachten und gröhlten, erzählten sich schmutzige Witze und tranken, bis sie nicht mehr gehen konnten und Phil sie in das zweite Schlafzimmer packen musste. Das Baby Wendy wuchs in dieser Mischung aus Alkoholdunst und lachendem Lallen auf. Wenn Lyanne von der Arbeit kam, war Wendy meistens halb verhungert, Windel, Strampelhose und Bettchen patschnass gepinkelt. Wendy war ein stilles Baby. Sie schrie nicht, wenn sie nass war oder einen Stinki in der Windel hatte. Selbst wenn sie Hunger hatte, maunzte sie nur zehn Minuten lang leise wie eine Katze, dann schlief sie erschöpft ein.
    Für Lyanne war Wendy ein Kind, das besondere Aufmerksamkeit brauchte, eben, weil sie sich nicht so lautstarkt artikulierte wie andere Säuglinge. Für Phil war Wendy ein Baby, das man lieben konnte, ohne nach ihm sehen zu müssen.
    Lyanne fand diesen Zustand unerträglich. Wenn sie lange Streifen fuhr, dachte sie an nichts anderes als an ihr Baby. Würde Phil es merken, wenn Wendy etwas in die Luftröhre bekam und es nicht aus eigener Kraft aushusten konnte? Würde es ihm auffallen, wenn sie plötzlich Fieber bekam? Wendy begann früh zu krabbeln, versuchte auf Tische zu steigen, fiel herunter. Würde Lyanne sie eines Tages schwerverletzt auffinden, wenn sie nach Hause kam? Während Phil und seine feuchtfröhlichen Freunde sich im Nebenzimmer Bierrülpser zuwarfen?
    Und eines Tages hatte Lyanne zum zweiten Mal einen Babybauch. Sie war nicht ganz sicher, wie es geschehen war, denn sie nahm die Pille, aber vielleicht hatte sie sie ein oder zwei Mal vergessen. Solche Dinge passierten. Passierten sogar Leuten, die ihr Leben besser im Griff hatten als sie beide.
    Natürlich hatte die Sache Phil nicht aus der Bahn geworfen. „Pass du nur gut auf Nummer Zwei auf, solange sie in dir drin ist“, hatte er betont. „Sobald sie das Köpfchen rausstreckt, werde ich sie übernehmen. Keine Sorge.“
    Diese Worte, auch wenn sie gut gemeint sein mochten, bescherten Lyanne eine Gänsehaut, so oft sie an sie dachte.
    Nummer Zwei wurde ein Junge. David.
    Als David auf die Welt kam, stand es mit ihren Finanzen nicht gerade zum Besten. Sie hatten einen neuen Wagen gebraucht und auf Phils Anraten („Wir sind jetzt eine richtig große Familie, weißt du?“) nicht den kleinsten und billigsten gekauft. Dann hatte die Veranda renoviert werden müssen, und Lyanne hatte eine kostspielige Zahnkorrektur gehabt. Natürlich gab die Bank ihnen Kredit – eine amerikanische Bank würde doch einer jungen Polizistin keinen Kredit verweigern! Doch es war fraglich, wie sie ihn zurückzahlen sollten. Der Mutterschaftsurlaub endete acht Wochen nach der Entbindung – danach würden sie ohne Einkommen dastehen.
    Während ihrer Schwangerschaft hatte Lyanne sich vorgenommen, beim zweiten Kind alles perfekt zu machen. Sie würde David auf jeden Fall länger stillen als Wendy (drei Monate), und Phil würde entweder endlich kapieren, was es bedeutete, ein treusorgender Vater zu sein, und Ordnung in seinem Leben schaffen, oder er würde arbeiten gehen und ihr die Kindererziehung überlassen. Doch alle Aussprachen mit ihm prallten an seinem wohlwollenden, schwebenden Lächeln ab, und an Scheidung wollte sie um Himmels, Himmels Willen nicht einmal denken. Abgesehen davon, dass sie noch immer irgendwie an ihm hing und das Gefühl hatte, ihn trotz allem zu brauchen – eine Scheidung hätte ihre finanzielle Situation nicht besser gemacht.
    Also biss sie in einen Apfel, der saurer war als
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