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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen
Autoren: Martin Clauß
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den schmutzigen Kanonenofen, hinter dem ein rostiger Ofenschirm die Wand schützte. Es war die einzige Ecke im Raum, wo kein Schimmel zu sehen war.
    „Bitte, denken Sie nicht schlecht von Ihrem Herrn Vater!“, rief sie. „Denken Sie schlecht von mir! Ich bin es, die ... Sie sind so ein hübscher junger Herr. So ein hübscher, netter, gnädiger junger Herr ...“
    Samuel ging zur Tür.
    „Bitte, die Wohnung ist wirklich sehr schön. Kündigen Sie uns nicht! Mein Mann würde mich halb totschlagen, wenn er wüsste, dass ich Sie verärgert habe. Und die Kinder haben viele Freunde hier. Es tut mir so leid!“
    „Dazu besteht kein Grund“, brachte Samuel hervor. „Vielleicht ... schicke ich einen anderen, um die Miete abzuholen.“
    Er schloss die Tür hinter sich und machte sich benommen an den Aufstieg in den zweiten Stock. Er kroch die Treppe hinauf wie ein Tier, wie ein Albtraum, der die Bewohner heimsuchen würde. Er hatte plötzlich Angst. Angst vor allem. Vor dem Haus und der Treppe sowieso. Wie sollte er jemals wieder hinabkommen? Würde er die Stufen rückwärts hinunterklettern, wie man von einer Leiter stieg? Was, wenn ihn jemand dabei beobachtete? Was, wenn er das Bewusstsein verlor und stürzte? Was, wenn er sich übergeben musste?
    Aber das war nicht alles, wovor er sich fürchtete. Im obersten Stock wohnte ein Mädchen. Vaters Unterlagen vermerkten ihr Geburtsjahr – 1878. Das war auch Samuels Geburtsjahr. Das Mädchen war neunzehn, genau wie er. Und das Merkwürdige war: In den Papieren fand sich eine Photographie von ihr. Von keinem anderen seiner Mieter hatte sich Meir Rosenberg ein Lichtbild geben lassen.
    Von dem blassen, überbelichteten Foto lächelte dem Betrachter ein hübsches, sehr schlankes Fräulein entgegen. Die dunklen Augen dominierten das hagere Gesicht, das Lächeln war hintergründig und tief, und eine bezaubernde Art von Verwirrung lag in diesen Zügen. Die brünetten Haare fielen offen und weich auf die schmalen Schultern. Gewöhnlich trugen die Frauen ihr Haar in Knoten, Kränzen oder Zöpfen.
    Der Name der Mieterin war Charmaine Morice.
    Eine Französin.
    Was Samuel beunruhigte, waren die letzten Eintragungen in der Liste der Mietzahlungen. Es waren vier kleine Querstriche. Er hatte sie einfach aus den Büchern seines Vaters in seine Notizen übernommen.
    Kleine Querstriche.
    Charmaine Morice war seit vier Monaten mit der Miete im Rückstand.

2
    Insgeheim hatte er gehofft, sie nicht anzutreffen. Er war nicht in der Verfassung, versäumte Mieten einzutreiben, am wenigsten bei diesem Mädchen. Seine Hand zögerte minutenlang, bis sie anzuklopfen wagte, und als sie es tat, geschah es nur aus der irrealen Angst heraus, sein Vater könne ihn maßregeln, wenn er nicht mit Fräulein Morice sprach. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass sein Vater ihm nichts mehr anhaben konnte, dass er nun sein eigener Herr war.
    Sein wirklicher Herr war die Angst. Hatte Meir zärtliche Zuwendungen von seinen Mieterinnen erhalten? Von der Frau im ersten Stock? Von der Französin? Nein, von letzterer eher nicht, sonst hätte es die kleinen Querstriche nicht gegeben. Aber warum lebte sie dann noch hier? Meir Rosenberg war bestimmt kein Mensch gewesen, der Leuten kostenlos Wohnraum zur Verfügung stellte.
    Andererseits … hatte er seinen Vater überhaupt wirklich gekannt?
    „ Die Türö ist offön “, kam die Stimme aus dem Wohnungsinnern.
    Samuel drückte die Tür eine Handbreit auf und wartete, dass ihm jemand entgegenkam. Als dies nicht geschah, trat er ein. Mit jedem Schritt fühlte er, dass er sich im zweiten Stock eines Hauses befand. Es war, als schwanke alles unter ihm, als könne er jeden Augenblick durch die Dielen brechen. Er stützte sich an den Wänden und kam sich vor wie ein Betrunkener. Was musste Charmaine Morice von ihm denken? Dass ihr neuer Vermieter dem Alkohol verfallen war?
    „ ’ier “, rief Charmaine. „ Im Wohnsimmär. “
    Samuel öffnete eine weitere Tür. Er wusste genau, dass sie nackt sein würde. Nackt auf einer Couch vielleicht. Es musste einen Grund haben, dass sie ihm nicht entgegenkam. Dass sie nicht einmal wissen wollte, wer er war. Vermutlich hatte sie ihn von hier oben aus kommen sehen. Sie war vorbereitet. Sie war eine Französin – sie würde es geschickter angehen als die Frau unter ihr.
    Er wollte nicht hineingehen.
    Und tat es trotzdem.
    Charmaine Morice war nicht nackt. Sie saß an einem Tisch, den sie direkt ans Fenster gestellt hatte,
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