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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen
Autoren: Martin Clauß
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keiner von denen dabei sein, die ihm täglich die Türen einrannten.
    Seine Mieter – Samuel Rosenberg hatte nun über dreißig Mieter. Er wollte sie sehen, jeden einzelnen von ihnen. Nur so konnte er ein Gefühl für das Vermächtnis bekommen, das er angetreten hatte. Das ging nicht, wenn er nur am Schreibtisch saß und die Rechnungsbücher durchblätterte. Sein Vater mochte auf diese Weise den Überblick behalten haben – Samuel konnte das nicht. Er konnte sich unter all den Zahlen nichts vorstellen.
    Die insgesamt sechs Häuser lagen im Zentrum von Kassel, alte Gebäude, aber in annehmbarem Zustand. Das älteste von ihnen stand im Stadtteil Wesertor, einen halben Kilometer von der Fulda entfernt.
    Es war ein dreistöckiges Haus, unscheinbar in eine Häuserzeile integriert. Im Inneren waren vor Jahren Ausbesserungsarbeiten vorgenommen worden, doch die Fassade bot einen tristen Anblick. Ein kleines Vordach über der Tür trug einen quallenähnlichen, herabtropfenden Hut aus Taubenkot, und mehrere der Fensterscheiben wiesen Sprünge auf. Die Wand selbst sah aus wie ein Stück Leinwand, auf der ein William Blake seine Pinsel abgestreift hatte.
    Es war ein unentschlossener, wechselhafter Frühlingstag, der zunächst einen Schneeschauer und dann strahlenden Sonnenschein gebracht hatte. Jetzt, am Nachmittag, trug die Luft schon das Aroma des Frühjahrs in sich. Zwei Jungen spielten mit einem Brummkreisel direkt vor der Haustür, als Samuel sich zu Fuß näherte.
    „Du hast dich in der Tür geirrt“, quäkte einer von ihnen vorlaut. „Du wohnst nicht hier.“
    „Still, Hans“, flüsterte der zweite, ältere Junge, der die Augen nicht von Samuels schmuckem braunem Anzug nehmen konnte. „Vielleicht gehört dem das Haus. Oder die Straße. Oder die Stadt.“
    „Das Haus gehört meinem Vater“, behauptete der erste der beiden Rangen. „Er wohnt schon immer hier. Und die Stadt gehört Gott. Wie die Berge und der Fluss und der Himmel.“
    Im ersten Stock wurde ein Fenster geöffnet, und eine rundliche junge Frau streckte ihren zerzausten Kopf heraus. „Hans, wirst du den Herrn wohl durchlassen! Oder willst du eine Tracht Prügel?“
    Als der Junge schmollend zur Seite wich, betrat Samuel das Haus mit ernster Miene. Er begann seine Runde im Erdgeschoss und arbeitete sich dann nach oben. Je höher er kam, desto unsicherer wurde er. Die Treppen machten ihm enorme Schwierigkeiten, und wenn er in den Wohnungen war und versehentlich einen Blick aus dem Fenster warf, hatte er das Gefühl, das Haus würde zur Seite hin umkippen.
    Die Mutter des frechen Hans bot ihm einen dünnen Pfefferminztee an und bat vielmals um Entschuldigung. Ihre Wohnung verriet, dass sie hastig Ordnung zu schaffen versucht hatte. Sie war noch erhitzt von der Eile, ihre Wangen glühten, und auf ihrem grauen Rock und ihrer Bluse gab es mehr nasse Stellen als trockene. Offenbar hatte sie versucht, Flecken auszuwaschen.
    „Sie sind Herr Rosenberg, nicht wahr?“, erkundigte sie sich, während er den kreisenden Teeblättern in seiner Tasse zusah. Es war ein schönes Stück Geschirr, offenbar das einzige unversehrte, denn die Frau trank aus einem Becher, der keinen Henkel mehr hatte.
    Samuel nickte und sah auf ein Papier, auf dem er sich Notizen gemacht hatte. Die Familie, die hier wohnte, bezahlte die Miete nicht immer regelmäßig, aber unter dem Strich hatte sie bisher ihre Schulden beglichen. „Mein Vater ist tot“, sagte er finster.
    „Das tut mir leid!“, rief die Frau. „Er war so ein netter Herr!“
    Das bezweifelte Samuel, aber er verstand, dass sie das sagen musste.
    „Kommen Sie also immer persönlich, um die Miete abzuholen, wie Ihr Herr Vater?“ Ihre Augen sahen ihn groß an. Es waren schöne Augen, ein wenig zu direkt und schlicht vielleicht. Keine gebildeten Augen. „Mein Mann kommt erst um acht nach Hause. Er hat eine Arbeit als Wagner.“ Und dann sagte sie etwas, das ihn erschreckte: „Wenn Sie vormittags kommen, sind die Kinder in der Schule.“ Sie lächelte schüchtern. „Wir haben nicht viel Geld. Manchmal reicht es nicht ganz, um die Kinder zu versorgen und auch noch die Miete zu bezahlen, aber vielleicht ...“ Sie sah ihn an, und unter dem Tisch berührten ihre Füße ganz leicht die seinen.
    Dann zuckte sie zusammen und wandte das Gesicht zur Seite. Sie musste gesehen haben, wie schockiert er war.
    Eine lange Pause entstand zwischen ihnen. Samuel schob den Tee von sich und erhob sich langsam. Zerstreut stieß er gegen
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