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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32
Autoren: Martin Clauß
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Großbritannien und aus aller Welt hatten sich in F. Dunsteys mondäner Villa versammelt. Die London Fashion Week war eben zu Ende gegangen – nun feierte man den Erfolg eines der bedeutendsten Modeevents der Welt. Zweimal im Jahr fand die Veranstaltung statt und lockte mit Dutzenden von einzelnen Modeschauen Scharen von Presseleuten in die Themse-Metropole. Für wenige Tage rückten die ausgefallenen Kreationen der Designer ins Licht der Öffentlichkeit, paradiesvogelähnliche Gestalten und knochige Frauen in durchsichtigen Blusen flimmerten während der Nachrichtensendungen über die Mattscheiben und gaben den Zuschauern das tröstliche Gefühl, ein paar neue Farben und Formen seien über Nacht wichtiger geworden als Flugzeugunglücke und politische Kabbeleien. Die Schöpfer der Haute Couture verkauften Träume an die Menschen, Träume, in denen Frauen umso schöner wurden, je seltsamer sie sich kleideten, Träume von einer Welt, in der es keine Armen, Hässlichen und Dicken gab, nur Reichtum, Schönheit und schlanke, biegsame Eleganz.
    Das Mädchen, das sich Mama nannte, hatte sich nach einem Streit mit ihren Eltern in einen Zug gesetzt und war quer durch Belgien bis nach Oostende gefahren. Dort hatte sie die Fähre nach Dover genommen, war ein paar Tage an der Südküste herumgezogen, hatte sich im berühmten Seebad Brighton in einen Park gelegt und dort zwischen zwei Colas fünf junge Holländer getroffen, die auf dem Weg nach London waren. Ihnen schloss sie sich an, trennte sich jedoch in Victoria Station kurzerhand wieder von ihnen. Von der Fashion Week erfuhr sie erst durch die Plakate, von denen die Stadt überzogen war wie von einer zweiten Haut. Natürlich waren für die großen Shows keine Eintrittskarten mehr zu haben, und für Mama wären sie ohnehin kaum erschwinglich gewesen. Doch im Umfeld der Hauptveranstaltungen gab es viele kleine Modeschauen und Partys, veranstaltet von den zahllosen Boutiquen und Kaufhäusern, den Medien und nicht zuletzt von den Scharen von Jung-Designern, die alle hofften, bis zur nächsten oder übernächsten Fashion Week den Sprung nach ganz oben geschafft zu haben.
    Einem dieser Designer kam Mama näher, während sie das Treiben beobachtete, als würde sie mit offenen Augen einen Traum verfolgen. Mama trug eine handfeste teutonische Schönheit zur Schau, die man auf der Insel so nicht fand, und manche Männer haben einen Blick für die feinen Unterschiede, für Frauen, die einen Millimeter aus dem Flor des bunten Teppichs herausragen. Er sprach sie also an. Um sie zu beeindrucken, prahlte er damit, einen der wirklich großen Designer zu kennen – F. Dunstey, einen Enddreißiger, der seit sechs Jahren regelmäßig mit einer kleinen Kollektion auf der Fashion Week vertreten war. Er versprach ihr, sie zu einer von Dunsteys berühmten Partys mitzunehmen. Wie das Schicksal so spielt, hatte er ein wichtiges Karrieregespräch am Abend der Party, und so konnte er Mama zwar hinbringen und zwei, drei Leuten vorstellen, musste sich dann jedoch rasch ausklinken.
    Allein unter Fremden zu sein, gefiel ihr. Dass sie die Gespräche nicht immer verstand, störte sie kaum. Jeder Blick, den sie in die Runde warf, brachte mehr neue Eindrücke als ein ganzer Tag in der deutschen Kleinstadt, in der sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte. Anfangs hatte sie sich noch gefürchtet, dass sie sich abheben würde, dass man sie anstarrte oder dass einer der fracktragenden Bediensteten ihr auf die Finger klopfen würde, wenn sie nach den Austern und Hummerkrabben griff. Nichts davon geschah. Sie verschmolz mit der Gruppe und stellte fest, dass es viele wie sie gab, die durch die prachtvollen Räumlichkeiten glitten, ohne tiefschürfende Unterhaltungen zu führen, nur lächelnd, ab und zu nickend, wie komplexe, von einem Uhrwerk angetriebene Puppen.
    Wenn man angesprochen werden wollte, gab es einen einfachen Trick. Man trat auf einen der vier Balkone hinaus, am besten auf jenen, auf dem man mit Mondlicht übergossen wurde, und wartete ab. Nie dauerte es länger als dreißig Sekunden, bis ein Mann neben einem auftauchte und scheinbar gedankenverloren in die Nacht hinausblickte, nur um ein paar Atemzüge später etwas Philosophisches zu sagen.
    „Tausend Generationen von Modedesignern werden es nicht schaffen, Mondlicht in Textilien zu gießen.“
    Mama sah in den Augenwinkeln einen jungen Mann in einer schwarzen Jeanskluft, ein zitronengelbes Seidentuch um den Hals gewickelt. Er tat, als spreche er
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