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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32
Autoren: Martin Clauß
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ihn alleine gehen.
    Bis zu diesem Tag, an dem Vater nicht zurückkehrte. Die ganze Nacht hatten er und seine Mutter wachgelegen, und die temperamentvolle Irin hatte alle Männer des Dorfes fünfzig Mal feige Memmen genannt, ehe im Morgengrauen ein Suchtrupp aus fünf Männern aufbrach, um ihn zu suchen. Bereits zum Frühstück waren sie wieder zurück. Doch keiner von ihnen wollte etwas essen, und das war zum letzten Mal vorgekommen, als vor Jahren ein Rotfuchs im Hühnerstall des alten Blane ein phänomenales Blutbad angerichtet hatte.
    Ewen, so hieß es, habe man in den Ruinen von Perrick Castle gefunden, einem klobigen kleinen Gebäude, sechs Kilometer nordöstlich vom Dorf. Er war so tot gewesen, wie man nur sein konnte, und der alte Tom, der immer einen schlechten Scherz auf den Lippen hatte, behauptete, er habe ausgesehen, als hätte ihn der große Bruder des Fuchses von damals erwischt. Das war alles, was der Junge ertragen konnte. Als vernünftigere Leute aus der zweiten Reihe sich vordrängten und begannen, Ewens Verletzungen zu beschreiben, hörte er nicht mehr hin. Er war einverstanden damit, dass man den Körper, den man in eine Decke verschnürt und sechs Kilometer über die Wiesen geschleift hatte, auf der Stelle dem Bestatter übergab, ohne das Paket zu öffnen. Er wollte nichts damit zu tun haben, und er wollte nicht, dass seine Mutter etwas damit zu tun hatte. Sie saß im Haus, hatte ein Buch aufgeschlagen und las immer dieselbe Seite. Dabei war es nicht einmal die Bibel.
    Auf Perrick Castle gab es einen schiefen, roh gemauerten Turm, von dem noch ein bisschen über die Hälfte existierte. Daneben stand ein handgeschriebenes Schild: „Achtung, Einsturzgefahr“. Der Junge hatte es erst gesehen, als er schon das zehnte Mal dort gespielt hatte, so unauffällig und verwittert war es. Von diesem Turm seien Steine herabgefallen – ein großer und mehrere kleine – und hätten Ewen getötet, hieß es. Irgendwie kam ihm diese Erklärung fadenscheinig vor. Jeder Junge im Dorf und die meisten Mädchen waren schon einmal durch die Ruinen von Perrick Castle gestreift, und niemandem war jemals etwas zugestoßen. Nun sollte ausgerechnet sein Vater dort den Tod gefunden haben? Hatte er so tief nachgedacht, dass er die Geräusche nicht hörte, mit denen sich so ein Steinschlag ankündigte?
    Das klang so unwahrscheinlich, dass der Junge entschied, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Sein Vater war noch da draußen, lebte, ging über das Gras und würde zurückkehren, sobald er genügend nachgedacht hatte.
    Oder sobald er, sein Sohn, ihn fand.
    Dem Jungen fielen eine Menge Tiere auf, während er über das Land hastete. Vor allem waren es Hasen und Eichhörnchen, die sich von den schmalen Waldstreifen her auf die Wiesen wagten. Sie jagten an den verwaschenen Schatten der Bäume entlang und schienen den Menschen zu begleiten. Es war um die Mittagszeit. Nur einen einzigen Tag hatten die Lebenden gebraucht, um den Inhalt einer Wolldecke in einen Anzug zu stecken und in eine Holzkiste umzulagern. Ein Polizist aus Alloway war am Vortag hergekommen, mit einem Automobil, was beinahe für mehr Aufsehen sorgte als der Todesfall selbst. Man erzählte sich, er habe nur einen kurzen Blick in die Decke geworfen und sich dann rasch abgewandt. Die Geschichte, die man ihm über die Todesursache erzählte, schrieb er Wort für Wort in ein winziges Notizbuch und fuhr wieder davon. Nach zweihundert Metern trat er plötzlich auf die Bremse, wendete den Wagen, kehrte zu den ihm nachsehenden Dorfleuten zurück, lehnte sich aus dem Fenster und sprach ihnen allen sein herzliches Beileid aus. Das hatte er zuvor vergessen. Als er seine menschliche Pflicht erfüllt hatte, ließ er das Dorf zum zweiten Mal hinter sich, und alle wussten, dass er kein drittes Mal wiederkommen würde.
    Der Junge war gestern schon ein Stück weit auf die Wiesen hinausgegangen, um seinen Vater zu suchen. Doch die Angst hatte eine unsichtbare Mauer vor ihm aufgebaut, und als er eine bestimmte Distanz zum Dorf erreicht hatte, schien sich die Wand um ihn zu schließen, und er fürchtete, nie mehr daraus entfliehen zu können. Also hastete er durch die letzte Öffnung in dieser Mauer und brütete für den Rest des Tages im Garten neben dem Haus, ohne weinen zu können.
    Am Tag der Beerdigung war sein Mut unendlich größer, wurde er doch genährt von dem Zorn auf dieses scheußliche Ritual. Gab all dieses vornehme Tun und das Singen und Beten dem Himmel das Recht,
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