Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
ihm seinen Vater zu nehmen? War der Junge am Vortag planlos hinausgelaufen, schlug er jetzt zielbewusst den Weg ein, der ihn nach Perrick Castle führen würde. Da er keinen einzigen Schritt ging, ohne sich dabei nach seinem Vater umzusehen, nahm er an diesem Tag mehr Dinge wahr, als er in seinem ganzen Leben hier draußen gesehen hatte. Die Tiere haben wir schon erwähnt. Aber es waren auch die Formen der Hügel und die Muster am Himmel, die er sah. Die Wolken zogen nicht nach einer Richtung davon, sondern schoben sich in Wirklichkeit in sanften Bewegungen übereinander, und manchmal wallten einzelne davon nach unten hervor, als wäre oben kein Platz mehr für sie – mit anderen Worten: der Himmel war die oberste Schicht einer brodelnden, schäumenden Suppe, die jemand mit einem Deckel verschlossen hatte, und der Junge war nur eine Suppeneinlage darin, winzig, verloren und schon ziemlich ausgekocht.
    Nirgends fand er eine Spur von seinem Vater, und doch gab es nichts, was den Jungen nicht an ihn erinnert hätte. Er erreichte Perrick Castle schnell, und den zerbröckelnden Hallen und Türmen haftete nur wenig Schauerliches an. Sie schienen von großen Heldentaten aus weit zurückliegenden Zeiten zu erzählen, und sie faszinierten ihn heute, wie sie ihn immer fasziniert hatten. Dass sein Vater hier zu Tode gekommen sein sollte, schien wie die unverfrorenste Lüge der Menschheitsgeschichte. Das Moos kroch grün und saftig an den Mauern empor, ein neugieriger, gar nicht scheuer Hase kam aus einer der dunklen Türöffnungen gehoppelt, und der Hauptbau atmete tapfere Erinnerungen von den Kämpfen wackerer Recken.
    Dieses Gefühl hielt an, bis der Turm in sein Blickfeld kam.
    Krumm und schwarz wie ein verbrannter Ast, den jemand in die Erde gesteckt hatte, um einen von Gott verfluchten Ort zu markieren, ragte er hinter den übrigen Ruinen auf. An seinem oberen Ende schienen Schatten zu huschen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie zur Erde oder zum Himmel gehörten. Der Junge kam sich beobachtet vor. Gleichzeitig hatte er den irrwitzigen Eindruck, die Geister der Heroen würden den Atem anhalten und ihm für einen Moment den Rücken zuwenden. All das nur, um ihn nicht beschützen zu müssen, falls ihm etwas zustoßen sollte.
    Trotzdem ging er bis zum Fuße des Turmes. Dort sah er sich um und fand Blutspuren. Das überraschte ihn nicht. Er schnupperte daran und sagte sich, dass die roten Flecken kein bisschen nach seinem Vater rochen.
    Weit mehr als die Spuren beunruhigte ihn die Spitze des Bauwerks, zu der er nun aufblickte. Etwas Rotes blitzte für einen Moment zwischen den Schatten auf, ein Punkt von der Farbe frischen, glänzenden Blutes. Der Junge trat einen Schritt zurück, entfernte sich jedoch nicht von dem Turm. Seht her, ihr Helden , dachte er, ich fürchte mich nicht. Und falls mein Vater wirklich hier war, hatte auch er keine Furcht.
    Dann trieb eine bleigraue Wolke vorbei, und er überlegte, dass da oben etwas lauern mochte, was sich einen Dreck darum scherte, ob er oder sein Vater mutige Männer oder feige Memmen waren. Das einfach einen Stein herabwarf, wenn das Opfer die richtige Position erreicht hatte, ganz nüchtern und kalt, wie eine Maschinerie.
    Noch einmal stach ihm das Rot in die Augen, dann fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Es war weiß und lag am Boden. Weiß war nicht der richtige Ausdruck für diese schillernde Farbe. Einmal hatte der Junge Perlmutt gesehen, und dieser Gegenstand schimmerte ähnlich, obwohl er aus Papier sein musste.
    Dutzende gewaltiger Steine lagen rund um den Turm verstreut und gaben einen Anhaltspunkt, wie hoch er einst gewesen war. Auf einem dieser Steine lag ein Brief, ein sehr langgezogenes Rechteck, aus eben diesem perlmuttartigen Papier. Die rechte Hälfte nahm eine Schrift ein, zwei Zeilen, möglicherweise eine Adresse. Dass der Junge die Aufschrift nicht lesen konnte, lag nicht daran, dass sie ausgebleicht oder verwischt gewesen wäre. Der Brief sah aus, als läge er noch keine Stunde hier, und die rostroten Buchstaben waren von gestochener Schärfe. Doch es war nicht die Schrift, die er in der Schule gelernt hatte. Hohe, schlanke, sanft gebogene Lettern lehnten sich aneinander und wirkten wie dünne junge Bäume, gegen die von Westen ein sanfter Wind drückte. Sie schienen nacheinander zu tasten, ohne sich zu erreichen, und es gab mindestens fünf verschiedene, die wie lange f’s aussahen, ohne welche zu sein.
    Der Brief lag in seiner Hand, ehe ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher