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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32
Autoren: Martin Clauß
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mit der Natur. „Wenn einer es schaffen würde“, antwortete Mama, „wäre das das Ende der Mode.“
    „Das ist eine gute Antwort“, lobte der Mann. Er hatte recht. Es war eine ausgezeichnete Antwort, und sie war stolz darauf.
    „Ich heiße Mama“, sagte sie und drehte jetzt langsam den Kopf in seine Richtung. Sein Halstuch war ein so greller Farbtupfer, dass sein schmales Gesicht mit dem Dreitagebart dahinter verblasste.
    „Eine junge Mutter“, erwiderte er, beobachtete ihre Reaktion, schüttelte dann enttäuscht den Kopf und lachte: „Und das war keine gute Antwort.“
    „Was kreierst du? Halstücher?“, wechselte sie feinfühlig das Thema.
    Sie unterhielten sich ein paar Minuten. Er stellte sich als Roy Richter vor (den Familiennamen sprach er „Rickter“ aus). Seine Urgroßmutter war Deutsche gewesen, und er hatte ihren Namen angenommen, um nicht länger Smith heißen zu müssen. Er war eben dabei, ihr seine Auffassung von Mode zu erklären, da spürten sie die Anwesenheit einer weiteren Person. In den Schatten am Rande des Balkons stand der ältere Mann mit dem Schnurrbart und tat so, als würde er sie nicht beobachten.
    „Nevin MacNorras“, sagte Roy und breitete schmunzelnd die Arme aus. „Da wir nicht den gleichen Modegeschmack haben, hatte ich angenommen …“
    „… dass wir auch nicht nach derselben Frau sehen?“, vollendete der andere den Satz und trat mit gemessenen Schritten näher. Sein Gesichtsausdruck verriet, wie peinlich ihm die Situation war.
    „MacNorras?“, wisperte Mama ihrem jungen Gegenüber zu. „Und ich hatte mir eingebildet, er sei Ungar …“
    „Nevin, ein Ungar?“, prustete Roy lautstark hervor. „Er ist ein Schotte, falls es je einen gab. Ich wette, er würde lieber Haggis essen als die erlesenen Köstlichkeiten vom Büffet.“
    Mama begriff, dass es schottisches Englisch gewesen war, was sie für die holprige Sprache eines Ausländers gehalten hatte. Sie schenkte ihm ein Lächeln als Entschuldigung, und er nahm es mit einer leichten Kopfneigung entgegen wie ein großzügiges Kompliment.
    „Nevin hat formidable Damenmode gemacht“, erklärte Roy rasch. „Als Kind habe ich seine Modelle eins zu eins abgezeichnet – viel schwarzer Satin, und winzige Brillanten genau an den richtigen Stellen, sage ich dir, wie Nadelstiche bei der Akupunktur. Und dann diese tintenblauen Angorapullis, königlich! Ich besitze heute noch einen davon. Natürlich kann man das heutzutage nicht mehr tragen, aber das ist ja ein allgemeines Problem der MacNorras-Modelle …“
    MacNorras hatte das Gesicht abgewandt. Er sagte nichts. Mama brauchte eine Weile, bis ihr ins Bewusstsein sickerte, dass die Ansammlung an Komplimenten eine handfeste Beleidigung darstellten – und wahrscheinlich sogar als solche gemünzt waren. Der Mann mit dem eindrucksvollen Schnurrbart tat ihr plötzlich leid, umso mehr, als er offenbar nichts zu erwidern wusste. Er starrte nur angestrengt in die Nacht wie ein zerstreuter Schauspieler, der seinen Souffleur suchte.
    Langsam löste sie sich von dem Platz an Roys Seite und lehnte sich neben dem Älteren an die Balustrade. Es machte ihr Spaß, Roys erschrockene Miene zu sehen. Sie fühlte sich berauscht von dem Gefühl der Freiheit. Hier, wo sie niemanden kannte, konnte sie endlich alles tun, wonach es sie verlangte, konnte sich abwenden, von wem sie wollte, zuwenden, wem sie wollte. Zu Hause zogen die lächerlichsten Kleinigkeiten einen Rattenschwanz an Komplikationen nach sich. Dinge, die man ohne nachzudenken getan hatte, wurden einem Jahre später noch vorgehalten, und Worte, die einem in bestimmten Situationen herausrutschten, bekam man daraufhin öfter zu hören als seinen eigenen Namen.
    Hier und jetzt fühlte sie sich nicht nur frei, sondern vollkommen unverwundbar.
    „Ich würde sehr gerne Ihre Kollektion sehen“, sagte sie langsam zu MacNorras.
    „Gute Idee! Ich empfehle die von ’53. Die hatte Klasse“, rief Roy und tänzelte eingeschnappt an ihr vorbei, zurück in den brodelnden Saal, dessen Luft man mittlerweile schneiden konnte.
    MacNorras schwieg, und Mama ließ ihm Zeit.
    „Junge Wilde“, meinte der Designer nach einem tiefen Seufzen. „Sie denken, ihnen gehört die Welt. Man kann ihnen nicht böse sein. Ich war selbst einmal so wie Roy.“ Seine Aussprache bereitete Mama noch immer Schwierigkeiten, aber sie begann sie zu mögen. Als sie nichts erwiderte, lachte er leise vor sich hin, seine Mundwinkel zuckten, als sammle er Mut für
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