Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
nach der langen Autofahrt.
    Doch Anuschkas Ausgelassenheit währte nur etwa zwanzig Sekunden. Während Ronald die Mauer begutachtete (ihm war, als hätte er vage eine Schrift darauf erkannt), blieb die Hündin stehen, warf einen Blick zum Schloss hinüber, schauderte und klemmte die Rute ein. Plötzlich war sie an Ronalds Seite, drückte ihren Körper gegen ihn.
    Ronald seinerseits hatte das Gebäude noch nicht einmal angesehen. Eines nach dem anderen. Schritt für Schritt ging man durchs Leben. Er riss einige junge Efeuranken ab und fand, was er gesucht hatte.
    LEBENSGEFAHR NICHT BETRETEN
    Das stand auf dem Stein unter dem Efeu. Blaue Farbe, mit einem Pinsel aufgetragen, alles Großbuchstaben, unsauber, aber leserlich. Vor Jahren schon musste ein wohlmeinender Zeitgenosse die Worte angebracht haben. Nette Menschen gab es überall.
    Auf dem Weg zurück zum Auto trat Ronald auf die verschimmelten Überreste eines dicken Taus. Vermutlich hatte es einmal den Zugang verschlossen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn es dieselbe Person gespannt hätte, die auch für die verbale Warnung verantwortlich zeichnete.
    Eine Warnung, die er in den Wind schlagen würde, wie er sein Leben lang mit allen Warnungen dieser Art verfahren war.
    „Komm, hüpf schon rein!“, rief er die Hündin, doch Anuschka drückte sich gegen seine Beine und schien ihn nicht zu hören. Erst als er sie am Hinterteil anschob, kletterte sie in den Wagen. „Du bist ein sensibles kleines Ding“, bemerkte er. Anuschka reagierte immer auf Spukphänomene. Er hatte noch nie erlebt, dass sie eines kaltließ. Dann war der Geist also authentisch. Brave Anuschka. So einfach hatten sie das geklärt.
    Ronald tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und schickte einen Gruß in Richtung Haus, ehe er einstieg und den Motor anließ. Die Gartenanlage war verwildert, das Gras stand einen Meter hoch, aber noch hatten die Brombeeren das Areal nicht überwuchert. Ronald wollte die Rückseite des Schlosses sehen und – falls möglich – den Wohnwagen dort parken.
    Er fuhr im ersten Gang, die Tachometernadel zuckte nervös über der 10. Vor dem Kühler legten sich die Grashalme flach, und der Wagen rollte schwammig querfeldein. Ronalds Meinung nach waren Geländewagen ein Werbegag – was die konnten, konnten alle anderen Autos auch. Man durfte sie nur nicht zu sehr verhätscheln. Er passierte die schmucklose Seitenwand und erreichte die Rückseite. Im Abstand von zwanzig Metern zur Rückwand des Schlosses ging er vom Gas, und der Wagen stoppte augenblicklich. Ausrollen war nicht auf diesem Untergrund.
    In den nächsten Minuten beschäftigte sich Dr. Ronald Schlichter damit, das Gras vor dem Wohnwagen plattzutreten. Dazu stellte er seinen kleinen Kassettenrekorder aufs Dach des Kadetts, füllte frische Batterien nach, legte eine Kassette mit der Aufschrift OKTOBER 1975 ein und drehte die Lautstärke auf.
    „Marie“, sang Rex Gildo, „der letzte Tanz ist nuuuuuur für dich!“ Und im Anschluss daran behauptete Juliane Werding: „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst, du hast ein leichtes Spiel …“ Ronald schnitt den Soundtrack seines Lebens grundsätzlich selbst am Radio mit, am liebsten beim Schlager-Wunschkonzert „Sie wünschen wir spielen“ im Süddeutschen Rundfunk.
    Zu diesen Klängen stampfte er vor dem Wohnwagen auf und ab, eine Viertelstunde lang, bis eine Fläche von fünf auf fünf Metern entstanden war. Aus dem Caravan zerrte er einen Campingtisch und einen Klappstuhl mit Blümchenmuster und baute beides auf dem Stückchen Land auf, das er der Natur abgerungen hatte. Den Kassettenrekorder setzte er nun auf den Tisch, drehte ihn eine Spur leiser, nahm einen Karton mit Lebensmitteln aus dem Wagen und genehmigte sich erst einmal eine Afri Cola und ein Stück gegrillten Schweinebauch. Mit der ernsten Miene tiefen Genusses saß er auf dem knarzenden Stuhl, schmatzte und rülpste. Seine Finger glänzten vom Fett. Anuschka hatte sich vor seine Füße gelegt, wirkte noch immer aufgeregt, beruhigte sich aber, sobald er ihr ein Stückchen Schweinebauch zuwarf.
    Die Rückwand von Schloss Falkengrund, ein albtraumhaftes Gebilde aus Fabeltieren und Spukgestalten, betrachtete er gleichmütig wie der deutsche Urlauber das Mittelmeer. Als er sich gesättigt hatte, machte er sich ans Auspacken der technischen Gerätschaften. Einen der Apparate nach dem anderen trug er ums Schloss und setzte ihn irgendwo ab, ein Widerstandsthermometer vor dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher