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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31
Autoren: Martin Clauß
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der Bewegung.
    Sein Spiegelbild hatte sich verändert. Sein Bart hatte sich gelichtet, und irgendwie stimmte etwas mit seinen Augen nicht. Es schien, als blicke jemand anderes aus ihnen und kontrolliere die Muskulatur der Brauen. Auch schien sein Gesicht kantiger geworden zu sein. Er schob es auf die Lichtverhältnisse.
    Im Dunkeln vor dem Wohnwagen blitzte etwas auf, gerade als er hinaustreten wollte. Zwei gelbe Punkte. Ronald zuckte zurück, dann fluchte er. Es war ein erleichtertes Fluchen.
    „Himmel, Arsch und … Anuschka, mein Schatz!“
    Das Tier wich vor ihm zurück, und ihn durchzuckte der Gedanke, es könne sich um einen fremden Hund handeln – bei diesen Lichtverhältnissen wäre das zumindest möglich gewesen. Doch als er sich durch die enge Tür gequetscht hatte, drang mehr Licht nach draußen, und er konnte das Tier eindeutig als seine Anuschka identifizieren.
    Die Hündin war verletzt. Im ersten Moment hielt er die dunkle Linie auf ihrer Stirn für einen Schatten, dann für eine unbedeutende Schramme. Erst als er neben ihr in die Hocke ging, erkannte er das Ausmaß der Blessur. Eine Wunde zog sich von ihren Brauen schief über ihren Hinterkopf und Hals hinab bis auf ihre rechte Schulter. Auch ihr Schlappohr hatte auf dieser Seite eine Verletzung abbekommen, und ihr schwarzer Rumpf wies weitere Wunden auf. Ihr Fell war blutverschmiert, und an einer Stelle auf dem Rücken glänzte das Blut noch feucht.
    „Was machst du für Sachen?“, stöhnte Ronald. „Wie ist das passiert?“
    Er packte die Hündin unter den Vorderbeinen und hob sie in den Wohnwagen, ehe er sie im Licht einer elektrischen Lampe betrachtete. Sie zitterte und war nervös, schien Schmerzen zu haben. Ronald begutachtete die Verletzungen und konstatierte, dass nicht alles Blut war, was ihr Fell verunstaltete – dazwischen fanden sich auch braune Flecken von feuchter Erde und grüne von Moos. Er breitete eine Decke auf dem Boden aus (auf diesem engen Raum nahezu ein Ding der Unmöglichkeit), legte ihr zwei Hundeleckerli vor die Schnauze, zog sich ächzend in die Höhe und wühlte in einem Schränkchen unter der Decke nach dem Verbandskasten. Er hatte ihn noch nie gebraucht.
    Als er die angerostete blaue Box gefunden, das Jod, Tupfer und Verbandszeug herausgekramt hatte und sich wieder neben Anuschka kniete, hatte die Hündin noch keines der Leckerlis gegessen.
    Er vermutete, dass sie an ein Wildschwein geraten war. Die hatten in dieser Jahreszeit Junge und waren gefährlich. Von einem Menschen stammten die Verletzungen ebenso wenig wie von Brombeerhecken, das stand fest.
    Bei der ersten Wunde ließ Anuschka die Jod-Behandlung über sich ergehen, doch der Schmerz machte sie so aggressiv, dass die übrigen Verletzungen unbehandelt bleiben mussten. Sie zog die Lefzen zurück und schnappte nach Ronalds Hand. Dann wurde sie ruhig, schläfrig, und ihr Kopf sank auf die Decke, ihre Schnauze neben den Leckerlis. Behutsam tastete Ronald an ihrem Hals nach ihrem Puls. Der fühlte sich normal an.
    Da er in der Aufregung vergessen hatte, die Tür hinter sich zu schließen, waren Scharen von Nachtfaltern in den Wagen gedrungen. Sie wieder nach draußen zu scheuchen, funktionierte nur bedingt, also schloss er lieber die Tür und beschloss, sich mit den braunen Gesellen abzufinden, die um die Lichtquellen flatterten. Doch dieser Vorsatz war schwer umzusetzen. Ronald hatte den Eindruck, dass die Tiere sich auch für Anuschkas blutige Wunden interessierten, was völlig ausgeschlossen war. Blutsaugende Falter – was für ein Humbug!
    Nach einer Weile hatten ihn die Insekten so nervös gemacht, dass er beschloss, sie alle zu töten. Einige Minuten später war das Werk getan und seine Hände voller klebriger Innereien, Chitin und was dieses Ungeziefer sonst noch im Leib hatte. Ronald Schlichter hatte seine Contenance weitgehend verloren. Er war so durcheinander, dass er sich das scheußliche Zeug erst an den Hosen abwischte, ehe er an Wasser und Tücher dachte. Normalerweise halfen einige hundert Kilokalorien, um den Buddha in ihm wieder zu stärken, doch Appetit konnte er beim besten Willen nicht aufbringen.
    Als er sich die Hände gewaschen hatte, setzte er sich an den mit Messgeräten überladenen Tisch, legte sein sperriges Notizbuch auf die letzte freie Ecke, öffnete seinen Geha-Schulfüller und begann zu schreiben. Zuerst die Messergebnisse – Radioaktivität und magnetische Flussdichte weiter steigend, die anderen Werte kaum auffällig. Dann
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