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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31
Autoren: Martin Clauß
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herjagte und jedes Mal zubiss, wenn er strauchelte oder zögerte. Er brachte es nicht übers Herz, richtig zuzutreten, um sie sich vom Hals zu schaffen.
    Der Zündschlüssel – wo hatte er ihn hingesteckt? Ronald versuchte die Tür des Kadetts zu öffnen. Er war sicher, den Wagen nicht verriegelt zu haben, aber nun ließ sich die Tür nicht öffnen. Vielleicht hing es mit dem Magnetismus zusammen, vielleicht gab es andere Gründe. In dieser Welt war nicht mehr wichtig, warum etwas geschah, nur, was geschah.
    Er blieb stehen. Atmete tief durch. Er glaubte nicht, dass man ihn würde weglaufen lassen. Und falls doch, dann würde er nicht mehr Ronald Schlichter sein, wenn er unten in Wolfach ankam.
    Es gab nur einen Weg. Den Weg, den er immer ging.
    Die Konfrontation.
    Er musste Falkengrund betreten, sich dem Spuk stellen.
    Anuschka ließ nicht locker, und er verpasste ihr den ersten ernstgemeinten Tritt. Sie flog zur Seite, was ihn bestimmt ebenso schmerzte wie sie, aber sie gab nicht auf. Ronald begann zu rennen, lief durch die Dunkelheit, schaffte es, den Kabeln und Messgeräten sowie Anuschkas Zähnen auszuweichen.
    Kam ans Schlossportal und drückte die Tür nach innen auf.
    Die Finsternis im Inneren hatte etwas Fluoreszierendes an sich. Die Konturen einer Gestalt zeichneten sich ab. Der Anblick beeindruckte ihn so tief, das er vergaß, die Tür rasch hinter sich zuzuziehen. Anuschka schlüpfte mit ihm ins Innere des Hauses.
    „Was wollen Sie?“, keuchte Ronald. „Warum tun Sie mir das an?“
    Der Beagle sprang hoch und prallte gegen Ronalds Rücken. Der geschwächte Mann machte zwei Schritte nach vorn, um den Aufprall zu parieren, und geriet dabei in unmittelbare Nähe der Erscheinung. Als er ihr ausweichen wollte, strauchelte er und knallte auf den Fußboden.
    „ICH HASSE DICH“, sprach eine dunkle, aber erstaunlich menschliche Stimme.
    „Wa-was?“, stotterte Ronald. Er stemmte die Hände gegen den Boden, wollte sich aufrichten.
    Die Beagle-Hündin war neben ihm. Ihr Gebiss fand seinen Hals, die Kiefer schlossen sich mit erstaunlicher Kraft. Freilich starb er nicht beim ersten Biss, doch Anuschka war hartnäckig, ließ nicht locker, bis er tot war.

3
    November 1978
    Der Frau hinter dem Verkaufstisch schien es nicht zu gefallen, dass Werner ihre Waren mit den Fingern begutachtete. Sie stand wohl nicht auf lange, ungepflegte Haare und einen ebensolchen Bart. „Ich dachte, die Hippie-Zeiten wären vorbei“, raunte sie einem Mädchen um die Vierzehn zu, wohl ihre Tochter. Ihre Blicke glitten über Werners abgewetzte Jeansjacke und blieben an dem Gegenstand hängen, den er in der Hand hielt. Ihre Augen weiteten sich.
    „Wo hast du denn das Ding her?“, flüsterte sie weiter. „Das hab ich in unserem Haus noch nie gesehen.“
    Die Tochter schwieg mit zusammengekniffenen Lippen. Auf einmal wurde sie unruhig, sah aus wie jemand, der aufs Klo musste.
    Die Mutter ergriff den Oberarm ihrer Tochter. Das Mädchen trug einen beigefarbenen Poncho und einen grauen Schal dazu, den es bestimmt fünfmal um den langen Hals gewickelt hatte. „He, ich rede mit dir!“
    „Weiß ich doch …“
    „Also, wo hast du dieses Lederdingsbums her?“
    Als das Mädchen die Antwort wieder verweigerte, sah Werner den Moment zum Handeln gekommen. „Was soll das kosten?“, fragte er schnell und zückte schon seinen Geldbeutel.
    Die Geste verfehlte ihre Wirkung nicht. „Fünf Mark!“, rief die Tochter. Ehe die Mutter etwas tun konnte, hatte Werner ihr den Schein mit Dürers junger Venezianerin schon in die Hand gedrückt und sich abgewandt. Nach einigen Schritten ins Flohmark-Gewimmel drehte er sich um und ging noch einmal mit abgewandtem Gesicht an dem Stand vorbei, weil er hoffte, noch etwas über die Herkunft seines Kaufs zu erfahren. Die Mutter löcherte noch immer ihre Tochter, und Werner meinte ein gehauchtes „Wohnwagen“ zu vernehmen. Und die Mutter: „Welcher Wohnwagen? Hast du das etwa irgendwo … stibitzt?“
    „Tststs“, machte Werner und beschleunigte seine Schritte. Er hatte ein schweres, in schwarzes Leder eingebundenes Notizbuch gekauft. Der Einband war voller Flecken, eine der Ecken angeschlagen. Er hatte das Notizbuch ausgiebig in die Hand genommen, wie er es an diesem Tag schon mit vielen anderen Waren getan hatte, und durchgeblättert. Werner war ein Mensch, der in Flohmärkte eintauchte wie Dagobert Duck in den Inhalt seines Geldspeichers. Er musste die Auslagen nicht nur sehen, sondern berühren, vor
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