Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
ertastete die langen, kräftigen Haare, die nasse Kleidung, die Sanjay getragen hatte, die ebenmäßigen Züge, die feingeschnittene Nase, die vollen Lippen … und schließlich die Augen.
    Mit einem Aufschrei zuckte sie zurück.
    Die Lider waren nicht geschlossen.
    „Neeeiiiiin“, heulte Margarete und brach über der Toten zusammen.

9
    Sie mussten die Dozentin von der Leiche herunterzerren, denn sie wollte sie nicht hergeben.
    Dirk Fachingers große Hände zitterten, als er das tat, und sie zitterten noch immer, als er den Puls fühlte. Während Wim Scherz über sein Mobiltelefon einen Notarzt rief, begann der Hauptkommissar mit der Reanimation. Margarete kauerte wenige Meter daneben wimmernd am Fuße eines der Regale und versuchte die Geräusche nicht zu hören, die dabei entstanden.
    „Ihre Gesicht ist grau wie Pappe“, bemerkte Fachinger mit belegter Stimme. Margarete wollte sich nicht vorstellen, wie das aussah.
    Die Stimmen waren verstummt, verscheucht, wie es schien, von der schrecklichen Tragödie, die sich ereignet hatte. Oder verscheucht von dem Übertreten einer Seele in das Reich der Toten?
    Wim Scherz rannte nach oben, um den Arzt und einen Sanitäter zu empfangen. Diese führten die Reanimation mit dem Defibrillator fort – ohne Erfolg. Margarete spürte, dass sie bald aufgeben würden, und so war es auch.
    „Sie hat einen schweren Stromschlag bekommen“, stellte der Arzt fest. „Ihre nassen Hände und die nasse Kleidung – das hat den Stromfluss begünstigt. Dazu kommt natürlich, dass sie keine Schuhe trug. Und dieser Boden …“
    „Ein äußerst leitfähiges Spezialmaterial“, meinte Wim Scherz. „Ein Muss in einem so trockenen Raum wie diesem, um die statische Aufladung zu verhindern. Sonst würde ich bei meinen Kontrollgängen knistern wie ein …“ Ihm versagte die Stimme. Selbst Traude Gunkel, die sonst in jeder Situation eine bissige Bemerkung parat hatte, schwieg.
    „Aber woher kam die Elektrizität?“ Fachinger stellte die Frage, und sie blieb unbeantwortet im Raum stehen.
    Der Rollstuhl hatte unter Strom gestanden. Margarete wusste, dass sie deshalb unverletzt geblieben war, weil sie hervorragend isoliert gewesen war. Dicke Kleidung, ein Ledermantel, Wollhandschuhe, schwere Schuhe mit stabilen Gummisohlen … Und sie war trocken geblieben, da Sanjay draußen im Regen den Schirm über sie gehalten hatte. Über sie alleine.
    Ge-… rechtigkeit.
    Das Wort, das erklang, als Sanjay starb.
    Margarete schüttelte schluchzend den Kopf. Nein, mit Gerechtigkeit hatte das alles nichts zu tun. Nie hatte sie eine größere Ungerechtigkeit erfahren.
    Eine ihrer Studentinnen hatte ihr Leben verloren.
    Sanjay Munda. Jeder hatte sie gemocht, und ganz bestimmt nicht nur wegen ihrer betörenden Schönheit. Margarete hatte sich vorgenommen, eines Tages ausführlicher mit ihr zu reden, über Indien, über das, was Sanjay wusste und glaubte. Das war nun nicht mehr möglich.
    Wo hielt sie sich jetzt auf, wohin war sie unterwegs? Bereitete ihre Seele sich auf die Wiedergeburt vor, so wie man es in dem Land glaubte, aus dem ihr Vater stammte? Kam in diesen Sekunden irgendwo auf der Welt ein Kind auf die Welt, das etwas von Sanjays Wesen in sich trug?
    Der Tod – bei all ihrem Wissen hatte Margarete doch keine Ahnung, was er bedeutete und was danach geschah.
    Sie wusste nur eines: Sie war heilfroh, dass sie die Tote nicht ansehen musste. So konnte sie sie in Erinnerung behalten, wie sie als Lebende gewesen war: Schön, geheimnisvoll, freundlich …
    „Leihen Sie mir Ihr Handy, bitte?“, flüsterte sie, als Fachinger sich zu ihr herabbeugte und ihren Schmerz mit ein paar Trostfloskeln zu lindern versuchte. „Ich muss Werner anrufen.“

10
    Werner Hotten saß an seinem Schreibtisch, die Ellbogen auf der Tischplatte, den Kopf in den Händen vergraben.
    Vor ihm lag das Telefon, daneben ein aufgeschlagenes Adressbuch. Der Hörer war noch schweißnass von dem Gespräch mit Margarete.
    Werner hatte zwei Telefonate vor sich. Eines mit Sanjays Eltern, eines mit ihrem Freund, einem jungen Mann namens Paul, den sie noch keine vier Monate kannte. Die beiden hatten bestimmt große Pläne gehabt.
    Wenn die Gespräche erledigt waren, musste er sein Büro verlassen und den anderen die furchtbare Nachricht übermitteln. Sollte er es ihnen einzeln sagen, oder war es besser, sie alle im großen Seminarraum zusammenzurufen und …
    Nie hatte Werner seine Arbeit so gehasst wie heute. Nie hatte er sich so gehasst. Nie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher