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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31
Autoren: Martin Clauß
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seine Beobachtungen.
    Anuschka scheint zu schlafen. Die Zahl der Falter nimmt zu. Rund fünfzig an der großen Scheibe. Immer mehr Barthaare auf dem Tisch, auf meiner Brust, meinem Schoß. Von der Radioaktivität kann es nicht kommen, die hat keine sofortige Wirkung. Wirken andere Kräfte, die ich nicht messen kann?
    Minutenlang starrte er auf die langsam ansteigende Nadel der Förster-Sonde. Nach einer Pause schrieb er weiter.
    Ich denke daran, aus dem Wohnwagen zu stürzen, mich hinters Steuer zu klemmen und loszufahren. Anuschka bräuchte einen Arzt. Vielleicht ist das hier zu groß für mich. Andererseits: Hunde, die mit Wildschweinen kämpfen, sind nichts Unnatürliches. Nachtfalter auch nicht. Die Falter
    Er stand auf, ging zum Fenster und leuchtete die Tiere an. Sie bewegten sich nicht mehr, hatten aufgehört zu flattern. Er betrachtete sie genauer. Noch genauer.
    Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Sie zuckten merkwürdig, verkrampften sich.
    Die Falter scheinen zu verenden. Eine Folge derselben Kraft, die mir die Haare ausfallen lässt? Bedeutet das, ich werde auch sterben? Ich fühle mich schwach.
    Die Falter starben nicht, und sie waren auch nicht krank. Sonst wären sie von der Scheibe gefallen. Sie blieben an dem Glas kleben, zuckten, krümmten sich.
    Veränderten sich.
    Sie haben die Flügel angelegt, und eine feucht glänzende Schicht schiebt sich über die Flügel, nein, über ihren ganzen Körper. Die Schicht wird stumpf, geliert, festigt sich. Eine Hülle entsteht. Die Hülle dunkelt nach, und sie sehen nicht mehr aus wie Falter. Eher wie
    Puppen. Sie waren Puppen.
    Sie verpuppen sich, aber viel zu schnell und in die falsche Richtung. Das ist wissenschaftlich unmöglich.
    Das Wort „wissenschaftlich“ strich er durch.
    Ich verliere den Verstand. Das ist anders als alles, was ich kenne. Ich glaube nicht, dass ich hier noch herauskomme. Es ist schon zu spät. Ich wage nicht, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Doch, ich muss es tun. Wenn ich danach noch dazu fähig bin, schreibe ich nieder, was ich gesehen habe.
    Im Spiegel bildete sich ein fremder Mann ab. Ähnlichkeiten zu dem Dr. Ronald Schlichter, den er kannte – verdammt, nein, der er war ! – waren vorhanden, verschwanden aber zusehends. Abgesehen von ein paar dünnen Büscheln hatte er keinen Bart mehr. Dafür sprossen auf seinem Kopf Haare, lange Haare. Sein Blick war entschlossen, seine Augen lagen unter kräftigen Brauen und leuchteten in sattem Dunkelbraun, nicht mehr in kühlem Grau.
    Wäre der Haarausfall nicht gewesen, Ronald hätte glauben können, der Spuk würde ihm dieses Spiegelbild nur vorgaukeln. Falsche Reflexionen waren kein seltenes Phänomen. Doch was sich veränderte, eine Metamorphose durchlief, war nicht sein Abbild, sondern er selbst!
    Ich habe einen Mann gesehen. Ich nehme an, es ist der Baron von Adlerbrunn. Nein, ich will ehrlich sein – mein Gesicht scheint seines geworden zu sein, und nicht nur im Spiegel, denn mein Bart fällt aus, und auch sonst fühlt sich mein Gesicht irgendwie anders an. Anuschka ist aufgewacht. Sie knurrt mich an. Die Falter sind starre, dunkle Puppen geworden. Ganz links oben hängt eine von ihnen an der Scheibe, die ist schon einen Schritt weiter. Die Chrysalis dehnt sich. Da will etwas heraus. Die Hülle bekommt Risse. Was wird es sein? Ein neuer Schmetterling, oder
    Ronald schrie auf. Anuschka hatte sich ihm genähert, und er hatte wie immer die Hand nach ihr ausgestreckt, um ihr den Kopf zu streicheln. In diese Hand hatte sie ihn gebissen, nicht mit der ganzen Kraft, die in ihren Kiefern steckte, aber es tat weh, und es erschreckte ihn.
    eine Raupe , kritzelte er auf das Papier. Ich werde versuchen zu fliehen.
    Das waren die letzten Worte, die er notierte.
    Auf dem Fenster schlüpften braune, unansehnliche Raupen aus den Puppenhüllen. Schabende Geräusche waren zu hören, als kratzten sie mit winzigen Zähnen oder Krallen über Wände und Fenster des Caravans. Ronald nahm das als Tatsache hin. Jetzt war alles möglich, auch dass sie sich durch die Wand oder das Glas bissen, konnte er sich plötzlich vorstellen.
    Ronald ließ das Notizbuch liegen, wo es war, warf sich gegen die Tür und stolperte ins Freie. Die Nacht war erstaunlich ruhig. Keine Schwärme von Faltern, die sich auf ihn stürzten, keine wilden Hunde oder Wildschweine, keine Geistererscheinungen.
    Nur Kabel, die sich krümmten wie Schlangen und ihn zu Fall brachten. Und Anuschka, die bellend und knurrend hinter ihm
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