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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29
Autoren: Martin Clauß
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Leitwolf verwandelt sich vor ihren Augen immer mehr in ein hilfloses Etwas. Noch ist es nicht zu einer Katastrophe gekommen. Vielleicht hat es kritische Stimmen aus den Reihen der Mitarbeiter gegeben, Kreisler betreffend, doch sie werden abgeblockt. Einen Mann wie ihn kann man nicht einfach abservieren, nur weil er mal vergisst, das Licht auszuschalten, oder weil er mal an einem Feiertag zum Dienst erscheint. Man entwickelt immer mehr Strategien, um seine Probleme zu kaschieren. Ehe man sich versieht, arbeitet das ganze Dezernat auf Hochtouren an der Vertuschung seiner Unfähigkeit. Und dann“, Fachinger griff zum ersten Mal nach dem Wasserglas, „das Desaster!“
    Es war schwer zu sagen, ob Denzel seinen Ausführungen folgte. Er tippte mit den Fingernägeln auf den Tisch, wie jemand, der nichts mit seiner Zeit anzufangen weiß.
    „Der Kovič-Mord. Der Tote wird in der Wohnung von Gernot Schranz gefunden. Die Mordwaffe, ein Schraubenzieher, liegt neben der Leiche, voller Blut und – was viel wichtiger ist – voller Fingerabdrücke. Hundertprozentige Spuren. Doch was tut der demenzkranke Kreisler? Er nimmt den Schraubenzieher in die Hand wie ein Amateur, verwischt die Spuren. Und vielleicht noch viele andere dazu. Möglicherweise kommt man Schranz trotzdem auf die Schliche (schließlich hat der Mord in seiner Wohnung stattgefunden). Kreisler verhört ihn, man sperrt ihn vielleicht sogar in Untersuchungshaft, doch Kreisler hört nicht auf, Dummheiten zu begehen, macht all die Formfehler, die eine Anklage platzen lassen, vernichtet Indizien, stellt die falschen Fragen. Am Schluss steht man da mit einem hundertprozentigen Mörder, kann ihm aber nichts anhaben, hat sich alle Wege verbaut. Schranz ist ein freier Mann, der Mord kann ihm nicht zur Last gelegt werden. Mit diesem Fiasko an die Öffentlichkeit zu gehen, wird nicht nur dem Ruf der Polizei schaden – es bedeutet, Hauptkommissar Kreislers Ehre in den Dreck zu ziehen, das Lebenswerk dieses großen Mannes auf ewig zu beschmutzen. Alles, was er früher getan hat, wird verblassen, die Medien werden ihn auf alle Zeit zu dem Polizisten machen, dessen Fehler einem Mörder die Freiheit geschenkt haben. Das kann man Kreisler und seiner Familie nicht antun. Also steckt man die Köpfe zusammen im Morddezernat. Man hat schon so vieles vertuscht – kann man diese letzten großen Fehler auch noch kaschieren? Es so aussehen lassen, als sei der Mörder über alle Berge, oder, besser noch, als sei gar kein Mord passiert? Wer wird Victor Kovič vermissen? Alle Beteiligten werden darauf eingeschworen. Der einzige außerhalb der Polizei, der die wahren Umstände kennt, ist Gernot Schranz. Und der wird schweigen, denn er ist der Mörder.“
    Denzels Frau öffnete nun die Tür, um nach dem Rechten zu sehen. Unschlüssig machte sie einen Schritt ins Zimmer hinein. „Wir sind fertig“, sagte Fachinger. „Wir hatten nur ein Gespräch.“
    Die Frau musste intuitiv spüren, dass etwas nicht in Ordnung war, denn sie ging auf ihren Gatten zu, fasste ihn an der Schulter, blickte entsetzt in sein belämmertes Gesicht. „Was haben Sie mit ihm gemacht?“, hauchte sie.
    „Er wird schon wieder“, antwortete Fachinger. Langsam erhob er sich. In Gedanken vervollständigte er seinen Monolog.
    Bei ihrer Aktion hatten Kreislers Mitarbeiter die Rechnung ohne Victor Kovič, das Opfer gemacht. Sein Tod war nicht gesühnt worden, die Polizei hatte den Mörder gehen lassen müssen, und das wegen ihrer Treue zu einem Mann, der sein Denkvermögen verloren hatte. Fachinger wusste nicht viel über die Welt der Geister. Die Bücher, die er darüber gelesen hatte, widersprachen sich häufig. Aber die Seele von Kovič musste im Jenseits auf eine Chance gewartet haben, den Fall wieder aufzurollen. Vielleicht waren fünf Jahre eine lange, vielleicht eine kurze Zeit, dort, wo die Seelen sich aufhielten. Vielleicht spielte Zeit überhaupt keine Rolle.
    Kovič war nicht einfach als Gespenst umgegangen. Selbst wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, hätte das nicht dazu beigetragen, seinen Fall zu lösen. Er hatte den Mord an ihm neu inszeniert, noch einmal neu aufgeführt, in der aktuellen Wohnung von Schranz, in dessen Abwesenheit. Sein Blut, die Mordwaffe, die Fingerabdrücke, die man damals hätte finden müssen – alles war da, sogar die Schreie und Geräusche, nach denen Kreisler vermutlich zu fragen versäumt hatte. Nur die Leiche fand man nicht. Natürlich nicht. Victor Kovič existierte seit
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