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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29
Autoren: Martin Clauß
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Schulkameraden gefragt hätte, hätte er sie auf Anhieb alle aufzählen können.
    Es war erst drei Uhr, doch den Rest der Nacht fand er keinen Schlaf mehr. Die Erinnerungen strömten durch seinen Kopf, wie bei einem dieser modernen Kunstwerke, bei denen auf mehreren Fernsehschirmen unterschiedliche Programme abliefen.
    In aller Frühe brach er nach Mannheim auf.

8
    Sein erster Anlaufpunkt war die Wohnung, die Schranz früher bewohnt hatte. Sie lag in einem dieser lieblosen, billig hochgezogenen Wohnblocks am Stadtrand, die nach zwanzig Jahren schon baufällig aussahen. Die fleckigen Wände zeugten von Wasserschäden, die Fußböden präsentierten sich aufgeworfen und schartig. Es war kurz vor zehn Uhr, als er an einer der Türen im fünften Stock klingelte.
    Eine junge Frau mit Brille öffnete ihm. Sie sah aus wie eine Studentin und schien noch nicht lange wach zu sein. Fachinger zeigte ihr seinen Ausweis. „Nur ein paar Fragen“, reagierte er auf ihre unwillige Miene. „Das können wir hier an der Tür erledigen. Wohnen Sie schon lange hier?“
    „Etwa fünf Jahre“, antwortete sie, wohl eher mechanisch.
    „Kannten Sie ihren Vormieter?“
    Sie zog die Stirn kraus. „Nein. Was soll diese Frage?“
    „Wir ermitteln wegen eines Verbrechens.“
    Ihre Blicke wurden plötzlich unruhig. Sie musterte ihn, schien zu überlegen, ob sie ihm etwas anvertrauen konnte, was sie belastete.
    „Ja?“, lud Fachinger sie ein.
    „Nichts“, sagte sie widerstrebend.
    „Gut, dann nicht. Wie finden Sie diese Wohnung?“
    „Komische Frage. Wie finde ich sie? Billig. Billig und hässlich. Man bekommt Albträume, wenn man länger hier ist.“ Ihr verschreckter Blick bewies, dass sie nun doch das herausgelassen hatte, was sie eigentlich nicht aussprechen wollte.
    „Albträume, sagen sie?“
    „Ach, vergessen Sie’s!“
    „Nein, das interessiert mich. Ich habe selbst häufig Albträume“, versicherte er ihr. War es ein Albtraum, einem Mann in einem Altersheim einen Schraubenzieher zu überreichen?
    „Wirklich?“ Es klang spöttisch. „Träumen Sie etwa auch, Ihr Wohnzimmer sei plötzlich voller Blut, die Möbel, die Wände, alles?“
    „Nein, Gott bewahre, das träume ich nicht“, gestand er. Sein Herz begann zu pochen. Mit so einem Ergebnis hatte er nicht gerechnet. Spontan kramte er in seiner Innentasche, in der er den in ein Tuch eingeschlagenen Schraubenzieher verstaut hatte. Wickelte den Gegenstand aus und zeigte ihn ihr.
    Ihre Reaktion war deutlich. Mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen sprang sie zurück und schlug die Tür krachend vor ihm zu.
    Eine Minute lang sah der Beamte gedankenverloren auf den Schraubenzieher. „Die Mordwaffe“, murmelte er im Selbstgespräch. „Das einzige, was in diesem verdammten Fall sicher ist, ist die Mordwaffe.“
    Er sparte es sich, die Mieterin noch einmal zum Öffnen der Tür aufzufordern. Zweifellos hatte sie den Schraubenzieher erkannt, aber seltsamerweise glaubte er nicht im Geringsten, dass sie deswegen etwas mit der Sache zu tun hatte. Sie sah den Schraubenzieher in ihren Träumen, so wie er ihn in den seinen sah.
    Er ließ den Fahrstuhl links liegen und nahm die Treppe nach unten. Während er hinabstieg, kam er zum ersten Mal auf den Gedanken, dass ihnen die Träume möglicherweise von jemandem geschickt wurden. Dass sie dadurch auf etwas aufmerksam gemacht werden sollten. Die Frau, die in Schranz’ ehemaliger Wohnung lebte, hatte ihre Träume schon länger, schien sich aber damit abgefunden zu haben. Wenn er sich mit seinen abfand, würde sich nichts verändern. Er würde sie immer wieder haben, ohne dass es zu einer Lösung kam.
    Wer schickte ihnen die Träume? Das Mordopfer? Ein Geist also?
    Ein anderer hätte diesen Gedanken verworfen, doch Fachinger hatte schon einmal einem Geist gegenübergestanden. Er fragte sich, ob das der Grund für alles war. Dirk Fachinger, der Kriminalhauptkommissar, der an Geister glaubte, der von Geistern wusste – der ideale Ansprechpartner also für …
    … einen Geist.
    Vor dem Haus verabreichte er sich eine gehörige Portion Schnupftabak, danach trank er in einem Kaufhausrestaurant einen Kaffee und machte sich auf den Weg zur zweiten Station seines Mannheim-Ausflugs.

9
    Das Lokal hieß Hermes und wurde auch spöttisch „Herpes“ genannt. Eigentlich war es bis zum späten Nachmittag geschlossen. Aber Fachinger wusste, dass man als Mann von der Kripo hier immer ein offenes Ohr fand. Die Leute, die diesen Schuppen betrieben,
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