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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29
Autoren: Martin Clauß
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könnte und die Nebel hinter ihm ihre sanften Vorhänge um Falkengrund schlössen.
    Den Luxus, im Inneren des Hauses auf das Taxi zu warten, gönnte er sich nicht. Dort war es zu gefährlich für ihn geworden.
    Er gehörte nicht zu den anderen, war von Anfang an nur ein Besucher gewesen, auf der Durchreise gewissermaßen. Die Kontakte, die er schneller als erwartet hatte knüpfen können, hatten sich als trügerisch erwiesen. In Wirklichkeit reichten sie nicht annähernd so tief, wie er gehofft hatte. Falkengrund konnte sehr gut auf ihn verzichten. Menschen, von denen er noch vor kurzem geglaubt hatte, dass er ihnen etwas bedeutete, jagten ihn nun fort. Und dabei hatte er nichts getan, um sie zu verstimmen, war nur er selbst gewesen.
    Der Mann trauerte. Es war nicht die Art von Trauer, die einen in Tränen ausbrechen oder laut klagen lässt, sondern eine schlimmere, tiefere Form von Gram, nämlich jene, die einen Menschen von innen her aushöhlt, bis nur eine dünne, morsche Hülle zurückbleibt. Er stand reglos dort, als sei er eine Statue, ein steinerner Wächter des Hauses. Er fürchtete beinahe, dass er auseinanderbrechen würde, wenn er sich nur bewegte.
    Die Scheinwerfer sah er schon von weitem. Hin und her, hin und her schwangen sie, stachen in den nebligen Himmel, als sich das Fahrzeug den steilen Weg herauf fraß. Für einige Sekunden verschwanden sie, während der Wagen an der Mauer entlang fuhr, die das Anwesen umschloss. Dann flammten sie gleißend auf, und der Mann genoss es, in ihrem Licht zu stehen. Er hob sogar die Hand und winkte. Sein Koffer ruhte neben ihm. Hatte er sein Gepäck überhaupt ausgepackt?
    Das Geräusch der Reifen auf dem Kies klang so, wie er sich das Zermahlen von Gebeinen in einer Knochenmühle vorstellte. Langsam kam das Taxi zum Stehen, noch langsamer stieg der Fahrer aus. Er roch nach Zigarillos, ein Geruch fast wie aus einer anderen Welt, angenehm und anziehend zunächst, dann penetrant, als der Fahrgast sich auf den Beifahrersitz setzte und die Tür schloss.
    „Wo wollen Sie denn mitten in der Nacht hin?“, erkundigte sich der Fahrer.
    Das ist eine verdammt gute Frage , dachte der Gast und nannte dann den Namen einer Stadt, der ihm eben in den Sinn kam. Nach einer Weile des Schweigens fasste er so etwas wie Vertrauen zu dem Fahrer und fügte aufrichtig hinzu: „Eigentlich können Sie mich überall hin fahren, solange es weit weg von Schloss Falkengrund ist.“
    „ Das kann ich verstehen“, lachte der Mann am Steuer und zündete sich ein Zigarillo an, ohne seinen Kunden um Erlaubnis zu fragen. „In der Zentrale haben wir Strohhalme gezogen, wer um diese Zeit hier herauf fahren muss.“ Er schüttelte sich. „Puh. Kalt und gruselig. Da läuft es einem eiskalt weiß Gott wohin …“
    „Erwarten Sie deswegen kein hohes Trinkgeld.“
    „Mir reicht schon, wenn Sie mir versprechen, mich nicht zu verhexen oder so etwas.“ Er flachste, aber irgendwo hinter seinen Lachfalten war er todernst.
    „Das kann ich Ihnen garantieren“, erwiderte der Gast. Sie passierten das große Haupttor, der Fahrer schaltete in einen höheren Gang, gab Gas. Falkengrund blieb hinter ihnen zurück, und der Mann schloss damit ab, machte einen klaren Strich unter seine Zeit in dieser Schule.
    Jetzt lautete das Motto: Vergessen.

    SAGTE ICH ES NICHT? VERGESSEN, VERGÄNGLICHKEIT – SIE UMGEBEN DIESE TEXTE WIE EIN SCHWARM NICHT SATTZUKRIEGENDER FLIEGEN. DIE NÄCHSTE SZENE IST SEHR KURZ, UND SIE FÜHRT UNS INS INNERE DES GEBÄUDES, DESSEN ÄUSSERES WIR EBEN HINTER UNS GELASSEN HABEN.
    VIELLEICHT SOLLTE MAN SICH VORSTELLEN, DASS SIE ZEITGLEICH ZU DER ERSTEN ABLÄUFT.

3
    Sie hatte das Zimmer für sich alleine. Jedenfalls war sie der einzige Mensch, der sich dort aufhielt. Die beiden Betten hatte sie von den Wänden ein Stück weit in die Raummitte gezogen und sich dazwischen auf den Fußboden gelegt. Es gab ihr das Gefühl, in einem Sarg zu ruhen. Die Härte des Bodens tat ihr gut. Sie hatte sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, und auch die Kälte war ihr angenehm.
    So hatte sie das Gefühl, wirklich tot zu sein.
    Denn in ihrem Inneren war sie es. Sie hatte eben das wichtigste verloren, was es in ihrem Leben gab, und sie selbst war schuld daran. Es gab keinen Grund mehr, dieses Leben fortzuführen, doch natürlich würde sie es tun, und sei es nur deshalb, um diesen göttlich-teuflischen Schmerz in all seinen Facetten zu erleben und in seiner ganzen Tiefe auszuloten.
    Wenn es einen Pfad gab, der in
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