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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29
Autoren: Martin Clauß
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durch das Gebäude zusehen zu müssen. Einen Tag vor Heiligabend war sie aus der Klinik entlassen worden. Ihr Augenlicht, das sie bei der Begegnung mit den Gargoyles eingebüßt hatte, war bislang nicht wieder zurückgekehrt. Die Ärzte hatten ihr eine Sehkraft von weniger als zwei Prozent attestiert, und die Dozentin und Hexe wandelte in einem Reich aus vagen Schatten umher. Der angestrengte, qualvolle Ausdruck auf ihrem Gesicht, wenn sie, die Arme tastend zu beiden Seiten ausgestreckt, durch das Schloss schlich, war kaum zu ertragen. Wie in Zeitlupe bewegte sie sich die Treppe hinab, und manchmal suchte sie minutenlang, bis sie eine Klinke oder ein bestimmtes Möbelstück gefunden hatte. Von der erstaunlichen Sicherheit, die man oft bei Menschen vorfand, die schon lange blind waren, war bei ihr nichts zu spüren. Sie irrte durch eine Welt, die sie gut kannte und die ihr dennoch von Grund auf fremd geworden war.
    Die gesellige Frau hatte sich in ein unsicheres Geschöpf verwandelt, das verschlossen und abweisend seine Runden machte, Wege ging, deren Sinn und Ziel sie vielleicht nicht einmal selbst kannte. Wenn man sie ansprach, konnte man ein paar freundliche und beinahe natürliche Worte aus ihrer Kehle locken. Doch sie vermochte die Maske nur wenige Sekunden lang zu erhalten, ehe sie sich dann abwandte und sich wieder in ihr Inneres zurückzog.
    Sie war eine Frau gewesen, die sich in vielen Dingen auskannte und vieles vermochte. Obwohl all dieses Wissen und Können noch in ihr war, schien es nun wie versiegelt zu sein. Ihr war mehr geraubt worden als nur ihr Augenlicht – ihre ganze Persönlichkeit, ihre ganze Identität hatte unter dem Unfall gelitten.
    Im Moment war mit ihr nichts anzufangen, und vielleicht war es aus diesem Blickwinkel heraus nicht schlecht, dass gerade jetzt die Weihnachtsferien anstanden. Der Unterricht wäre sowohl für sie als auch für ihre Schüler eine Tortur geworden.
    Von den Studenten hielten sich nur noch sechs in der Schule auf: Jaqueline, Dorothea, Isabel, Georg, Artur und Michael.
    Melanie und Angelika waren zu ihren Familien gefahren. Sanjay verbrachte Weihnachten bei ihrem Freund Paul. Madoka hielt sich weiterhin bei ihrem Vater in Japan auf. Felipe hatte die weite Reise in seine Heimat Mexiko angetreten und würde noch einige Wochen länger dort bleiben. Enene war in Richtung Afrika aufgebrochen, allerdings hatte der schweigsame junge Mann verlauten lassen, dass nicht seine Familie das Ziel seiner Reise war. Auch Harald hatte Falkengrund verlassen, um das Fest im Kreise seiner Lieben zu verbringen.
    Ekaterini bekochte die verbliebenen Gäste mit unbeirrbarer Treue, entschuldigte sich jedoch für die Nacht des Heiligabends, in der sie an der traditionellen Mitternachtsmesse einer griechisch-orthodoxen Kirche teilnahm.
    Nahezu fieberhafte Aktivitäten entwickelten in diesen Tagen Jaqueline und Dorothea. Nachdem ihre frisch gegründete Detektei noch keine Arbeit abwarf, gingen sie der Frage nach, die sie zurzeit am meisten beschäftigte: Irgendwo in den Wänden der Wohnung, die sie für ihr Detektivbüro gemietet hatten, lagen die Ersparnisse von Rosa Birk verborgen. Die alte Dame war in der Wohnung eines natürlichen Todes gestorben, und ihr Sohn Thilo hatte vergeblich nach dem Geld gesucht. Obwohl es in der Wand sein musste, lag es nicht in einem Geheimfach. Die Katze der Alten, ein mit übernatürlichen Kräften ausgestattetes Tier, hatte es vermutlich mit sich ins Gemäuer hinein genommen. Es war die Rede von mehr als 200.000 D-Mark. Falls sie sie finden konnten, würde das eine ordentliche Finanzspritze für Falkengrund bedeuten. Natürlich würden sie nicht das gesamte Geld behalten können, aber ein anständiger Finderlohn würde ja wohl drin sein.
    Die ganze Wand aufzureißen, stand nicht zur Debatte. Zu ertasten war das Geld nicht, außer man wandte magische Kräfte an. Margarete hätte ihnen vielleicht mit einem Zauber zur Hand gehen können, hätte sie sich nicht in diesem bedauernswerten Zustand befunden.
    Jaqueline war sich im Klaren, dass sie die Lösung selbst finden mussten. Ein paar Versuche hatte sie schon unternommen – zum Beispiel redete sie jedes Mal auf die Katze ein, wenn sie sich in den Büroräumen zeigte. Bisher hatte sie das Tier noch nicht zu einer Reaktion bewegen können, auch wenn sie bei sich überzeugt war, dass es verstand, was sie von ihm wollte.
    Georg und Dorothea waren nicht ganz bei der Sache, wenn sie mit ihnen diskutierte. Georg hatte
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