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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29
Autoren: Martin Clauß
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kann vielleicht alles unter uns bleiben. Wenn nicht, muss ich damit an die Öffentlichkeit gehen.“
    So sehr Denzel sich Mühe geben mochte, die Panik in seinem Inneren nicht bis auf sein Gesicht zu lassen, er versagte kläglich. Er ging zur Wohnzimmertür und schloss sie. Sperrte die Familie aus. Was jetzt kam, war nicht für die Augen und Ohren seiner Frau und Tochter bestimmt.
    „Können wir leise sprechen, bitte?“, fragte er.
    „Wir können“, donnerte Fachinger. „Nehmen Sie den Schraubenzieher!“
    Denzels Hand zitterte, als er sie nach dem Werkzeug ausstreckte. „Ich kann nicht“, keuchte er.
    „Warum stellen Sie sich so an?“, fragte Fachinger unverblümt. „Sind Sie der Mörder?“
    Wortlos schüttelte Denzel den Kopf und griff nach dem Gegenstand. Als er ihn erst einmal in der Hand hatte, schien es ihm nicht mehr so viel auszumachen. Er umfasste den Griff, berührte sogar die Spitze. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.
    „Danke, das reicht. Geben Sie ihn mir zurück.“
    Denzel gehorchte. Fachinger wurde von einer Energie erfüllt, wie er sie selten gespürt hatte. Die Welt veränderte sich, wurde auf eine gewisse unbeschreibliche Weise durchsichtig . Er erkannte, wie die Möbel zusammengebaut waren, begriff die Knoten im Teppich und hätte sie auf Anhieb nachmachen können. Aus der Art, wie Denzel sich bewegte und sprach, erfuhr er winzige Dinge über ihn und sein Leben, angefangen bei seiner Schulzeit, bis hin zu den Problemen, die er am Arbeitsplatz hatte. Es war nichts Übersinnliches im engeren Sinne. Er konnte keine Gedanken lesen, nicht in die Zukunft oder Vergangenheit sehen. Aber er hatte die Kombinationskraft eines Sherlock Holmes. Scheinbar unwichtige Details stachen ihm ins Auge, entfalteten sich, führten zu Schlussfolgerungen. Gegenstände im Raum sagten etwas darüber aus, wie er seine Frau kennen gelernt hatte. Seine Art, sich zu bewegen, verriet ihm, welchen Sport er betrieb.
    Es war ein unglaubliches Gefühl. Fachinger erinnerte sich, dass er sich das Kommissar-Sein als Junge ungefähr so vorgestellt hatte. Nun war es real. Die Welt war ein Pool von Spuren, nicht mehr und nicht weniger.
    „Vor fünf Jahren“, begann er, den Schraubenzieher noch in der Hand drehend wie ein Revolverheld seine Waffe, „ereignete sich ein Mord in der Mannheimer Schwulenszene. Gernot Schranz tötete einen seiner vielen Partner, vermutlich aus Hass oder Rache, weil er herausgefunden hatte, dass dieser unter Aids litt. Wie der arme Teufel hieß, weiß ich nicht.“
    Denzel ließ sich endlich auf der Couch nieder. Er wirkte verwirrt.
    „Wie – hieß – Schranz’ – Opfer?“, fragte Fachinger langsam, als spreche er mit einem geistig Minderbemittelten. Und genau das war Denzel auch. Fachinger hatte seine Intelligenz aufgesaugt.
    „Victor … Kovič“, kam es abgehackt aus dem Mund des Beamten. „Ein Kroate.“
    „Gut. Brav, Denzel, brav!“ Die Steinchen setzten sich zusammen. „Kovič’ Tod erregt nicht viel Aufsehen. In der Szene kennt man ihn nicht. Ein Ausländer, wahrscheinlich auf der Durchreise. Niemand vermisst ihn, niemand schreit nach dem Kopf seines Mörders. Aber der Polizeiapparat läuft natürlich an. Der Leiter des Morddezernats heißt zu diesem Zeitpunkt noch nicht Denzel, sondern …“
    Denzel kaute auf seiner Zunge.
    „… Kreisler“, fuhr Fachinger fort. „Kreisler leitete die Ermittlungen im Mordfall Kovič. Und damit beginnen die Probleme. Kreisler ist ein alter Hase und genießt bei seinen Mitarbeitern großen Respekt – das beweisen die Fotos, die heute noch in den Büros hängen. Keine Selbstverständlichkeit. Doch Kreisler ist zum Zeitpunkt von Kovič’ Ermordung nicht mehr der Alte.“ Er legte eine Pause ein und betrachtete sein Gegenüber, das eine klägliche Figur machte. „So wie auch Denzel im Moment nicht mehr der Alte ist. Ein erbärmlicher Schatten seiner selbst, seiner geistigen Kräfte beraubt.“
    Es klopfte an der Tür, und Fachinger rief „Jetzt nicht!“, worauf das Klopfen verstummte.
    „Kreisler ist demenzkrank. Es ist eine schleichende Krankheit. Das bedeutet, er macht von Tag zu Tag mehr Fehler. Zunächst sind es Kleinigkeiten. Er vergisst, Dinge zu erledigen, versäumt Termine, zuerst unwichtige, später auch wichtige. Anfangs lassen sich die Fehler leicht kaschieren, doch mit der Zeit wird das immer schwieriger. Er selbst will den eigenen Verfall nicht wahrhaben, und seinen Mitarbeitern geht es ähnlich. Ihr stolzer
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