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Exponentialdrift - Exponentialdrift

Titel: Exponentialdrift - Exponentialdrift
Autoren: Andreas Eschbach
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Fluglinie Sabena meldet Konkurs an.
    7. November 2001
Fast anderthalb Jahre nach dem Absturz einer Concorde nahe Paris nehmen British Airways und Air France die Linienflüge mit dem überschallschnellen Passagierflugzeug wieder auf.
    9. November 2001
In Afghanistan marschieren Soldaten der Nordallianz in die strategisch wichtige Stadt Masari-Sharif ein.
    10. November 2001
Auf dem UN-Klimagipfel wird ein Kompromiß erzielt, der den Weg für eine Ratifizierung des Klimaschutz-Protokolls von Kyoto freimacht.

FOLGE 7
    A RPA WAR NICHT sein richtiger Name, aber in der Firma nannten sie ihn alle so. Das durchzusetzen hatte seine Zeit gedauert und einiges an Hartnäckigkeit erfordert, doch es war nötig gewesen, um das Gleichgewicht zu vervollkommnen, das er mittlerweile erreicht hatte.
    Er arbeitete in der Kommissionierhalle der Versandabteilung. Eine gute Arbeit, um Gleichgewicht zu erzielen. Wenn er den Packwagen durch das Regallager schob, wußte er genau, welche Schachtel wie schwer war und wie er sie fassen mußte, um sie vollendet aufzuladen. Mit geringstmöglichem Kraftaufwand, mit befriedigender Eleganz in der Bewegung und ohne einen unnötigen Schritt zu tun. Gleichgewicht. Wenn es gelang, war seine Arbeit ein Tanz.
    Seine Kollegen waren an Gleichgewicht nicht interessiert. Ihr Interesse galt der Fortpflanzung und vagen, im Grunde unwahrscheinlichen Möglichkeiten, ihre Arbeit aufgeben zu können. Sie stolperten unkonzentriert und lustlos durch den Tag, vergaßen viel, machten unnötige Wege, vergeudeten in einem fort Kraft und beschwerten sich abends, erschöpft zu sein. Arpa sah, daß sie erschöpft waren, weil sie gegen ihre Arbeit ankämpften, doch er sagte nichts.
    Nach Hause ging er ungern, denn dort Gleichgewicht zu erzielen war ihm nicht gelungen. Dazu hätte es Gefährten bedurft, und die gab es nicht. Zu Hause fühlte er sich einsam, was manchmal so schmerzhaft war, daß er der Verheißung des Alkohols, zu betäuben, nicht widerstehen konnte. Darauf folgten Tage ohne Gleichgewicht, doch das fiel niemandem auf, im Gegenteil, es schien ihm dieanderen näherzubringen, sie beinahe zu Gefährten zu machen.
    Und dann waren da noch diese Träume, wilde, undeutliche, quälend schöne, sehnsuchtsvolle Träume, die ihn voll Verzweiflung erwachen ließen, weil er nie heimkehren würde in jene Länder, aus denen sie stammten. Um diese Träume zu betäuben, sie regelrecht abzutöten, mußte er fernsehen.
    Er sah gern Science-Fiction-Serien. Es amüsierte ihn, mit welch unbekümmert kindlicher Zuversicht darin menschliche Lebens- und Sichtweisen in die Zukunft und in den Weltraum verlängert wurden. Als ob das gehen würde! Als ob es keine Exponentialdrift gäbe!
    Wie eine Droge war es auch, sich durch die vielen billigen Reportagesendungen zu zappen. Belanglose Berichte über belanglose Verbrechen, nackte Haut unter billigem Vorwand, sinnlos, das alles zu sehen, aber es lenkte ab, bremste die Gedanken, verstopfte die Traumkanäle mit alternativem Stoff. Wenn er einmal anfing, konnte er erst aufhören, wenn sein Kopf sich innen wund und stumpf anfühlte vom Bombardement der Bilder.
    So saß er auch an diesem Mittwoch abend vor dem Fernseher, verfolgte die Nachrichten, nahm ohne Gefühlsregung zur Kenntnis, daß die Concorde wieder flog und viertausend Bundeswehrsoldaten in den Afghanistankrieg geschickt werden sollten. Ungleichgewicht. In den Gesichtern der Fernsehjournalisten las er mühsam gezügelte Begeisterung, ein historischer Moment! sagte jeder, gedankenlose Floskel. Heute war bekanntgeworden, daß die Streitkräfte so nicht von den USA angefordert worden waren, danach hatte gestern niemand gefragt. Und weder gestern noch heute stellte einer die Frage, was mit den anderen NATO-Staaten war. Es interessierte niemanden wirklich. Sie wollten Ungleichgewicht, es kitzelte ihre Nerven. Bewegung. Unvorhersagbarkeit. Gefahr.
    Er schaltete weiter. Werbung. Familienserien. Bei einemFilmbericht über einen Mann, der zufällig gefilmt worden war, wie er aus vierjährigem Koma erwachte, hielt er inne. In Großaufnahme das Gesicht des Mannes, flatternde Augen, keuchendes Einatmen und, endlich, nach jahrelangem Exil in der Nähe des Todes, der erste Laut: »Mmua de-hi.«
    Arpa erstarrte in seinem Sessel. Er konnte nicht glauben, daß er das eben gehört hatte, aber die Stelle wurde wiederholt, so daß es keinen Zweifel gab.
    Sie hatten es wieder getan!
    Er sah auf seine Hände hinab. Sie zitterten. Er schaltete den Fernseher
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