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Exponentialdrift - Exponentialdrift

Titel: Exponentialdrift - Exponentialdrift
Autoren: Andreas Eschbach
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vermutlich im Anflug auf Camp David, den Landsitz des amerikanischen Präsidenten, in Pennsylvania zerschellt. Es ist der verheerendste Terroranschlag in der Geschichte. Um 9 Uhr 40 werden erstmals in der Geschichte der USA landesweit alle Flüge eingestellt. Wissenschaftler nutzen in den Tagen bis zu ihrer Wiederaufnahme die Gelegenheit, den Einfluß des Flugverkehrs auf das Klima zu erforschen.

FOLGE 1
    »... was Sie vorschlagen? Ihn verhungern zu lassen?«
    »Ich habe Therapieabbruch gesagt, nicht ...«
    Die Wand: hellgrau. Leicht glänzend im Licht von Neonröhren. Milchiges Glas im Fensterrahmen, dunkel bis auf einen schmalen hellen Streifen am oberen Rand. Davor ein Bett, darin ein junger Mann in einem roten T-Shirt, halb aufgerichtet, die Arme verkrümmt vor die Brust gepreßt, die Augen blicklos geöffnet. Krankenhausgeruch.
    »... wie lange ist er schon ...?«
    »Vier Jahre ...«
    Worte, die vorüberglitten, verstanden wurden und zurück ins Nichts sanken. Begriffe, auftauchend wie von selbst, um Welt zu ordnen und zu benennen. Was blieb, war Dringlichkeit. Es war etwas zu tun, zu vollbringen, unbedingt.
    »... mit hoher Wahrscheinlichkeit nie wieder erwachen ...«
    Gesichter, die sich über ihn beugten. Gestalten, die sich vor den Jungen im roten T-Shirt schoben. Ein Stethoskop, das vor der Brust eines weißen Kittels baumelte. Helles Licht. Wärme.
    »... ist denn dieser ungeheure Aufwand zu rechtfertigen ...?«
    Widerstand. Eine diffuse Erinnerung. Endgültigkeit. Keine Umkehr, aber wohin eigentlich? Nein, Umkehr kam nicht in Frage. Es galt, den Abgrund zu überwinden. Ein Schritt, keine große Sache. Ein Körper, in den man schlüpfen mußte wie eine Hand in einen Handschuh.
    N ATÜRLICH STÖRTEN DIE Leute vom Fernsehen den Tagesablauf und brachten den dichten, ausgeklügelten Pflegeplan in Verzug. Jürgen Röber sah zu, wie sie Kabel verlegten, Stative mit Scheinwerfern aufstellten und immer wieder prüfend durch die Sucher ihrer Kameras spähten. Er hatte nicht geahnt, daß ein derartiger Aufwand für jeden einzelnen dieser minutenkurzen Beiträge getrieben wurde, den er abends mit höchstens halbem Auge auf der Mattscheibe verfolgte.
    »Können wir dann, Doktor Röber?« fragte der Redakteur, ein Mann mit rotgeränderten Augen und ungut aussehenden Leberflecken im Gesicht. »Wenn Sie sich jetzt neben das Bett stellen und ihm die Hand auf die Schulter ... ja, so, wunderbar ... Thorsten?«
    Das war der Kameramann. Der ging in die Knie, drehte am Objektiv. Ein Assistent fummelte an einem Stück Stoff vor einer der taghellen Lampen. Röber hatte erwartet, daß noch jemand kommen und Schweiß von seinem Gesicht tupfen würde, aber offenbar interessierte sein Aussehen niemanden.
    »Und schauen Sie mich an, nicht die Kamera.« Über dem glotzäugigen Objektiv glomm ein rotes Lämpchen auf. »Okay.«
    Röber nickte. Er hatte das Gefühl, kantig und verspannt zu wirken. »Dieser Patient hat im Mai 1998 eine Hirnblutung erlitten, unglücklicherweise in einem Flugzeug, das sich im Landeanflug befand.« Räusperer würden sie rausschneiden, hatte es geheißen. »Demzufolge dauerte es lange, bis Reanimationsmaßnahmen eingeleitet werden konnten. Zwar wurde sein Leben gerettet, aber er liegt seither im Wachkoma.« Die Schwestern hatten den Mann eigens frisch rasiert. Er hatte das magere Gesicht dem Fenster zugewandt, die Augen weit geöffnet, mit nichts zu erkennen gebend, daß er irgend etwas mitbekam von dem, was um ihn herum geschah.
    »Seit über vier Jahren also. Nun sagt man ja, daß jemand,der länger als zwei Monate im Koma liegt, mit hoher Wahrscheinlichkeit nie wieder erwachen wird ...«
    Röber musterte den Redakteur, in dessen Blick plötzlich etwas Dunkles, Aggressives lag. »Die Chancen sinken, je länger das Koma dauert, das ist richtig«, sagte er behutsam. »Aber es gibt viele gut dokumentierte Fälle, in denen Wachkoma-Patienten nach Jahren oder sogar Jahrzehnten spontan zu Bewußtsein gekommen sind. Im Prinzip kann ein Apalliker jederzeit erwachen.«
    »Haben Sie einen solchen Fall schon einmal selbst erlebt?«
    »Nein, leider nicht.«
    Der Redakteur nickte verstehend. »Was«, fragte er, »kostet eigentlich die Pflege eines Apallikers?«
    Plötzlich ahnte Röber, was gespielt wurde. Das Fernsehteam war hier, um das, was die Klinik tat, als Geldverschwendung erscheinen zu lassen. »Apalliker sind Schwerstkranke«, sagte er und spürte einen Zorn in sich aufwallen, von dem er wußte, daß er ihn
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