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Exponentialdrift - Exponentialdrift

Titel: Exponentialdrift - Exponentialdrift
Autoren: Andreas Eschbach
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im Zaum halten mußte, solange die Kamera lief. »Ihre fachgerechte Versorgung ist dementsprechend aufwendig und damit teuer. Aber verglichen mit vielen anderen Dingen, die unsere Gesellschaft sich leistet, ist –«
    »Was heißt das in DM pro Monat?« unterbrach der Redakteur.
    Röber atmete durch, ehe er antwortete. »Je nach Schwere des Falles monatlich elftausend bis vierzigtausend Mark.«
    »Mit anderen Worten, das Koma allein dieses Mannes hat bisher zwischen einer halben und zwei Millionen verschlungen.« Das hatte er doch unmöglich in diesem Moment ausgerechnet. »Was bei mehr als dreitausend neuen Apallikern jährlich einem dreistelligen Millionenbetrag entspricht. Ist angesichts solcher Zahlen nicht zu überlegen«, fuhr er kaltschnäuzig fort, »künftig die Dauer der Komatherapie zeitlich zu begrenzen, wie das etwa in der Schweiz, in England oder den Niederlanden teilweise bereits gemacht wird?«
    Röber spürte, wie sich sein Unterkiefer verkrampfte. »Dafür gibt es keine medizinische Rechtfertigung. Konkret heißt das nämlich, den Patienten verhungern zu lassen oder durch bewußte Vernachlässigung das Auftreten von Sekundärerkrankungen in Kauf zu nehmen, an denen er stirbt. Für mich ist das Euthanasie.«
    »Aber ist denn dieser Aufwand zu rechtfertigen? Alles nur um Leben ohne Bewußtsein aufrechtzuerhalten?«
    Röber hob abwehrend die Hand, spürte den Zorn in sich glühen wie schmelzendes Eisen, fühlte einen Impuls, die Fernsehleute aus dem Zimmer zu peitschen. »Wachkoma-Patienten sind keine unheilbar Kranken, keine Sterbenden und erst recht keine Hirntoten«, sagte er mit zitternder Stimme. Sie würden es sowieso herausschneiden. »Es sind lebende Menschen, die unsere Hilfe benötigen, genau wie andere schwerkranke auch. Sie haben zufällig kein Bewußtsein, aber das hat ein Säugling auch nicht.« Er war so wütend, daß er die unmerkliche Bewegung der Schulter unter seiner linken Hand fast nicht bemerkt hätte.
    »Gut, eine andere Frage ...«, begann der Redakteur, aber in einem Tonfall, als sei er erst dabei, sich diese zurechtzulegen.
    In diesem Moment ruckte die Schulter wieder. Eine Bewegung, als wolle sie Röbers naßgeschwitzte Hand abschütteln. Röber fuhr herum. Das ... konnte nicht sein. Er sank in die Knie. Ein spontanes Erwachen vor laufenden Kameras, das hatte es noch nie gegeben. Das war mehr, als man hoffen durfte.
    »Was ist –?« begann der Redakteur, aber Röber unterbrach ihn, ohne ihn anzusehen: »Lassen Sie die Kamera an, um Himmels willen.«
    Es war atemberaubend. Er versuchte zu fassen, was geschah, doch letztlich war es jenseits aller Faßbarkeit, war es Magie zu sehen, wie aus irgendeiner ungreifbarenDimension ein Geist, eine Wachheit, eine Präsenz in Augen einkehrte, die er bis jetzt nur als blicklose, ausdruckslose Murmeln gekannt hatte. So mußte es gewesen sein, als Adam die Seele eingehaucht wurde. Es war ein Moment, um an einen Gott zu glauben.
    Dann, so plötzlich, wie man Licht einschaltet, war der Mann da. War Leben in den Augen. War jemand zu Hause.
    Sein Mund bewegte sich, die Zunge kämpfte mit der Trockenheit darin. Sein Blick wanderte umher, von den Fernsehleuten zu den Scheinwerfern und zurück. Seine Hände tasteten mit unsicheren, eckigen Bewegungen über die Bettdecke.
    »Mmwwoah ...« , drang es krächzend aus der Kehle, die vier Jahre lang geschwiegen hatte. Der Brustkorb zitterte vor Anstrengung.
    Röber tastete nach dem Arm des Mannes, strich darüber, auf einmal unsicher, das Richtige zu tun. »Es ist alles in Ordnung«, flüsterte er. »Es kann Ihnen nichts passieren.«
    Der Kopf ruckte herum, sein Blick erfaßte den seinen mit erschreckender Intensität. Kehle und Mund arbeiteten noch immer daran, Laute zu formen, und er schien genau zu wissen, was er sagen wollte, wenn es auch niemand verstand. Alles, was er zustande brachte, war ein gutturales Etwas, das klang wie »Mmua de-hi« .
    Röber merkte plötzlich, daß seine Beine weich wie Pudding waren, und spürte den völlig verrückten Drang zu weinen. Er streckte die Hand nach der Klingel aus, um eine der Schwestern zu rufen, und dann, ohne aufzustehen – denn das hätte er nicht gekonnt –, warf er dem Redakteur über die Schulter einen Blick zu. »Sie haben eine Sensation auf Band, das ist Ihnen hoffentlich klar?« Er sah zu den Scheinwerfern hoch. »Jetzt wäre es gut, die da auszumachen.«
    Fortsetzung folgt ...

2. Oktober 2001
Erstmals in ihrer Geschichte ruft die NATO den
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