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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Autoren: Aufbau
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jenen armseligen Nazifunktionär hatte Hanns aufgerührt, er erkannte wieder einmal, wie gefährdet in dieser Zeit der Einzelgänger war, wenn er nicht über eine ungewöhnlich solide Vernunft verfügte.
    Hanns wünschte sehr, Vater Merkle möge sich um den Einzelgänger Sepp kümmern. Doch er hatte Bange davor, wie der Alte diese Anregung aufnehmen werde, und rückte nur zögernd mit der Sprache heraus. Der Buchbinder wandte denn auch ein: »Du selber sagst, dein Sepp sei schwierig und verschimmelt, und man könne kein vernünftiges Gespräch mit ihm führen. Was also willst du eigentlich? Soll ich unvernünftige Gespräche mit ihm führen?« Aber Hanns beteuerte eifrig, er habe mittlerweile erkannt, daß es mit Sepp gar nicht so schlimm stehe. Ja, er wußte auf einmal nicht genug Rühmens davon zu machen, wie der Vater über Nacht vernünftig geworden sei.
    »Es ist allerhand«, gab der Alte zu, »wenn ein Mensch wie dein Sepp sich so weit durchkämpft. Daß einer, der äußerlich und innerlich ein Nutznießer der alten Ordnung ist, und das ist dein Sepp im Grunde, daß so einer auch an der neuen Ordnung das Gute sieht und nicht nur die Unbequemlichkeiten, dazu gehört ein mutiges Aug.« Im Grunde war ihmHannsens Bitte willkommen, und ohne daß er’s sich recht eingestand, freute er sich darauf, ab und zu mit jemand über den fernen Hanns sprechen zu können. »Darf ich also Sepp sagen«, griff Hanns sogleich hoffnungsvoll die Anerkennung Vater Merkles auf, »daß Sie einmal mit ihm zusammenkommen wollen?« Und der Alte erwiderte, und er sprach, wohl infolge einer kleinen Verlegenheit, auf einmal französisch: »Schön, ich werde ihn aufsuchen.«
    Schnell dann verließ er dieses etwas sentimentale Thema und fuhr, als hätte er sich nie unterbrochen, fort: »Unsere heutigen sogenannten Demokraten verwechseln ständig Mittel und Zweck. Mit formal demokratischen Mitteln siegen wollen heißt die Demokratie, die man doch erst erringen muß, als Basis voraussetzen. Die Herren wollen es durchaus nicht wahrhaben, daß Wahlrecht und Pressefreiheit wertlos sind ohne wirtschaftliche Demokratie.«
    »Wenn ich Sie recht verstehe«, antwortete nachdenklich Hanns, »dann glauben Sie also, daß die Dunkelheit über dieser westlichen Hälfte der Welt noch sehr lange dauern wird und damit unsere Trennung.« – »So was sollte ein Mensch in deinen Jahren nicht denken und gar nicht erst sagen«, tadelte Vater Merkle. »Ein rechter Hahn kräht schon um Mitternacht. Er weiß, die Sonne kommt, auch wenn es noch eine Weile dauert.«
    Hanns hätte gern Sepps Umzug an den Quai Voltaire noch vor seiner Abreise bewerkstelligt. Allein Sepp hatte sich mit tausend listigen Vorwänden dagegen gesträubt. Wenn er einiges von seinen inneren Besitztümern hatte preisgeben müssen, zum Beispiel seinen himmelblauen Humanismus und Persönlichkeitskult, so klammerte er sich mit um so größerer Zähigkeit an die Dinge seiner äußern Umwelt. Er war kein Verschwender, er zahlte nicht gern doppelte Miete, den Zins für die Räume hier im Aranjuez und für die teuern Zimmer am Quai Voltaire. Aber seitdem ihm die Übersiedlung an den Quai Voltaire bevorstand, wuchs ihm das schlampige, dreckige Hotel Aranjuez mehr und mehr ans Herz. Sein überstopftesZimmer mit dem gefährlichen Fußboden wurde ihm lieb, dieses Zimmer war nun einmal verknüpft mit der Sinfonie, es hatte seine schwerste Zeit gesehen, sein bösestes Warten, Annas Sterben und seine innere Not. Das Aranjuez war ihm zu einer Art Heimat geworden, zu einer Art neuer Haut, die schon wieder abzuwerfen ihm verdammt schwerfiel. Selbst den filzigen Monsieur Mercier betrachtete er jetzt mit einer gewissen Sympathie, nicht einmal von ihm wird ihm die Trennung ganz leicht werden. Das Äußerste also, was Hanns dem Vater hatte abringen können, war das Versprechen, daß er gleich nach Vollendung des »Wartesaals« die Wohnung am Quai Voltaire beziehen werde.
    Aber »Der Wartesaal« wird nicht so bald vollendet sein. Sepp wird nicht so bald aus diesem Zimmer herausgehen müssen, und als er den letzten Abend mit Hanns verbrachte, hier im Aranjuez, war es ihm ein gewisser Trost, daß ihm wenigstens diese Umgebung noch für eine Weile bleiben wird. Er war ein Mensch von Phantasie, Phantasie ist zeitlos, er wird sich auch in Zukunft noch manches Mal vorstellen können, daß Anna oder Hanns in der nächsten Minute oder doch in der nächsten halben Stunde zur Tür hereintreten werden. Freilich wird ihn ein
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