Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
monumentale Revolverjournalist, der die Erpresserbriefe an die großen Herren seiner Zeit unterzeichnete: »Pietro Aretino, von Gottes Gnaden ein freier Mann.«
    Er hätte heute nicht zu Hause bleiben sollen. Sein Zuhause verdirbt ihm das Gemüt. In seinem Zuhause sieht sein Erfolg, was immer er sich vorsagt, einer Niederlage ähnlich wie ein Ei dem andern.
    Er nimmt ein Buch her, um sich abzulenken. Es ist eine Lebensbeschreibung der Jeanne d’Arc, ein Werk, in dem er unlängst, anläßlich seines Artikels, geschmökert hat. Erst liest er uninteressiert, dann gerät er an ein Kapitel, das ihn mehr und mehr fesselt. Es ist da die Rede von einer falschen Jeanned’Arc, die aufgestanden ist nach dem Tode der Jungfrau. Eine seltsame Geschichte, wahrhaftig, recht unglaubhaft, aber dabei dokumentarisch belegt bis ins Detail.
    Da taucht also, kurz nach der Verbrennung Johannas, in der Stadt Metz, ein Mädchen auf, das sich bis dahin Claude genannt hat, und erklärt vor einigen adeligen Herren, sie sei die Jungfrau Johanna. Es sind jetzt ziemlich genau fünfhundert Jahre her, daß das geschehen ist, es hat sich ereignet am 20. Mai 1436. Sie sei, erklärt sie, den Engländern entkommen, und diese, Panik fürchtend, hätten die Flucht verheimlicht und an ihrer Stelle eine Kindsmörderin verbrannt. Die falsche Johanna beherrscht meisterlich die Sprache der Jungfrau, jenes merkwürdige Gemisch aus Bibel und lothringisch mundartlichen Wendungen. Die beiden Brüder der echten Johanna, Pierre und Jean du Lys, bezeugen, daß sie in Wahrheit ihre Schwester sei. Ein gewisser Nikolaus Lowe, Kammerherr Karls des Siebenten, gibt zu Protokoll, die Echtheit Johannas sei erwiesen durch die kleine, rote Narbe hinterm Ohr, ein Kennzeichen, um das nur wenige gewußt hatten. Bald anerkennen Lothringen, Burgund, ganz Frankreich diese Johanna. Die Herzogin Elisabeth von Luxemburg bereitet ihr einen großartigen Empfang, Ulrich von Württemberg erklärt sich zu ihrem Schutzherrn, und der Baron Robert des Armoises, ein reicher lothringischer Edelmann, heiratet sie. Sie hält feierlichen Einzug in Orléans und Bourges, Johannas eigene Mutter, Isabelle Romée, anerkennt sie, Gilles de Rais nennt sich ihren Ritter und vertraut ihr das Kommando seiner Leute an. Zwei Jahre dauert die Herrlichkeit.
    Zwei Jahre. Eine schwere Aufgabe, zwei Jahre hindurch die Rolle der einfachen, gläubigen Prophetin zu spielen. Niemand weiß besser abzuschätzen als er, Erich Wiesener, wie schwer das gewesen sein muß. Er verspürt für diese falsche Johanna brüderliche Sympathie. Zwei Jahre. Er liest es, er prägt es sich ein mit einer gewissen bittern Genugtuung.
    Vielleicht hat auch diese zweite Johanna Stimmen gehört wie die erste. Daß die erste bedingungslos an diese Stimmengeglaubt hat, das unterliegt keinem Zweifel. Diese Stimmen haben sie ja auch nicht betrogen. Freilich, am Ende ist sie verbrannt worden.
    Diese Stimmen. Es ist darüber viel geschrieben und viel philosophiert worden. Es gab solche Stimmen zu allen Zeiten, nur hat man sie immer anders benannt. Sokrates zum Beispiel hat seine »Stimmen« sein Daimonion genannt. Der hat auch schließlich Gift trinken müssen, infolge Daimonions. Höre ich eigentlich Stimmen? Ich glaube, ja. Auch der Führer hört Stimmen. Er sagt es, er glaubt es, vielleicht glaube auch ich es. Manchmal haben die Stimmen sogar recht. Wenn man Roulette spielt, dann hören die meisten Menschen Stimmen, die ihnen sagen, ob sie Rot oder Schwarz setzen sollen. Manchmal gewinnt auch einer. Zweimal, dreimal. Aber am Ende gewinnt immer die Bank.
    Zwei Jahre hat die Herrlichkeit der falschen Johanna gedauert. Dem Führer hat seine innere Stimme prophezeit, daß die unsere tausend Jahre dauern werde. Aber am Ende gewinnt die Bank. Der Bär, zu Beginn des tausendjährigen Reiches, hat erklärt: »Die Sozen haben es auf zehn Jahre gebracht, ich bin neugierig, auf wie lange wir es bringen.« Die sieben fetten Jahre.
    Aber schließlich haben wir das internationale Monopolkapital hinter uns. Es hat uns in den Sattel gesetzt und wird uns so schnell nicht fallenlassen. Vielleicht freilich ist es den Herrn heute schon leid, daß sie uns geholt haben, und auf die Dauer wird sich die Welt unsere maßlose Frechheit nicht bieten lassen. Im Grunde ist es einfach unglaubhaft, daß sich ein Mensch wie ich hier in Paris so aufspielen kann. Die Herrschaften oben wissen doch, wie innerlich schwach und brüchig das ist, was hinter mir steht. Ich begreife
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher