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Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung

Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung

Titel: Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Autoren: Claudia Gray
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erscheinen könnte. Aber das tat sie nicht. Ich lief auf das Fenster zu, um einen besseren Blick zu haben, und da sah ich den Hauch einer Bewegung. Erschrocken fuhr ich zusammen, und erst mit einiger Verspätung dämmerte mir, dass ich mein eigenes Spiegelbild im Fensterglas gesehen hatte.
    Tja, ganz schön blöd. Du bist beim Anblick deines eigenen Gesichts in Panik geraten.
    Aber es war nicht mein eigenes Gesicht gewesen!
    Und doch musste es so gewesen sein. Wenn irgendeiner der neuen Schüler heute angekommen wäre, hätte ich davon gewusst, und Evernight lag so abgeschieden, dass es undenkbar war, eine Fremde könnte einfach mal so hier vorbeigewandert sein. Wieder hatte mir meine blühende Fantasie einen Streich gespielt. Es musste einfach mein eigenes Spiegelbild gewesen sein. Wenn ich es mir genau überlegte, war es vielleicht doch gar nicht so kalt hier.
    Als ich aufgehört hatte zu zittern, schlich ich hinauf zu der kleinen Wohnung, die meine Eltern und ich während des Sommers gemeinsam bewohnten. Sie lag ganz oben im Südturm von Evernight. Ich konnte Mom schnarchen hören, als ich durch den Flur schlich. Wenn Dad dabei weiterschlafen konnte, würde er auch bei einem Tornado nicht aufwachen.
    Der Schreck, der mich unten in der Halle überfallen hatte, steckte mir noch immer in den Gliedern, und dass ich bis auf die Haut durchnässt war, hob meine Stimmung auch nicht gerade. Aber nichts machte mir so zu schaffen wie die Tatsache, dass ich versagt hatte. Mein toller Einbruchsplan hatte sich als Pleite erwiesen.
    Es war ja nicht so, dass ich etwas wegen der menschlichen Schüler in Evernight hätte unternehmen können. Mrs. Bethany würde nicht aufhören, sie zuzulassen, nur weil ich das sagte. Außerdem musste ich zugeben, dass sie sie schützte und den Vampirschülern einschärfte, dafür zu sorgen, dass sie nicht das kleinste Schlückchen Blut von ihnen kosteten.
    Doch durch meine Bekanntschaft mit Lucas war mir klar geworden, wie wenig ich das Wesen der Vampire durchschaute, obwohl ich in diese Welt hineingeboren worden war. Lucas hatte mir beigebracht, alles aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, Fragen zu stellen und Antworten zu verlangen. Selbst wenn ich Lucas nie mehr wiedersehen sollte, so wusste ich doch, dass er mir ein Geschenk hinterlassen hatte, indem er mein Bewusstsein für die größere, dunklere Realität geöffnet hatte. Nie mehr würde ich irgendetwas um mich herum einfach so als gegeben hinnehmen.
    Kaum hatte ich meine nassen Klamotten abgestreift und mich unter der Bettdecke zusammengerollt, schloss ich die Augen und dachte an mein Lieblingsbild, Der Kuss von Gustav Klimt. Ich versuchte mir vorzustellen, dass die beiden Liebenden in dem Gemälde Lucas und ich waren und dass es sein Gesicht war, so dicht an meinem, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren konnte. Lucas und ich hatten uns nun schon seit sechs Monaten nicht mehr gesehen.
    Damals war er gezwungen gewesen, aus Evernight zu fliehen, nachdem seine wahre Identität bekannt geworden war: Er war ein Vampirjäger und gehörte dem Schwarzen Kreuz an.
    Noch immer wusste ich nicht, wie ich mit der Tatsache umgehen sollte, dass Lucas mit einer Gruppe von Leuten verbunden war, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, meinesgleichen zu vernichten. Auch war ich mir nicht sicher, wie Lucas damit klarkam, dass ich eine Vampirin war, etwas, das er erst begriffen hatte, nachdem wir uns ineinander verliebt hatten. Wir hatten uns beide nicht ausgesucht, was wir waren. Im Rückblick schien es unvermeidlich, dass wir auseinandergerissen wurden. Und doch glaubte ich tief in mir drin noch immer daran, dass wir füreinander bestimmt waren.
    Ich drückte mein Kopfkissen an die Brust und versuchte, mich zu trösten : Wenigstens wirst du bald nicht mehr so viel Zeit haben, ihn zu vermissen. Demnächst fängt die Schule wieder an, und dann hast du genug zu tun.
    Moment mal. War ich wirklich schon so tief gesunken, dass ich darauf hoffte, dass endlich die Schule wieder losging? Armseliger ging es doch nun schon bald nicht mehr.

2
    Am ersten Schultag kurz nach Sonnenaufgang begann die Prozession.
    Die ersten Schüler kamen zu Fuß an. Sie traten aus dem Wald heraus, schlicht gekleidet und für gewöhnlich nur mit einer einzigen Tasche beladen, die sie sich über die Schulter gehängt hatten. Ich schätzte, dass einige von ihnen die ganze Nacht gelaufen waren. Während sie näher kamen, suchten ihre hungrigen Augen die Schule ab, als hofften sie, dass
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